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Nach dem Ende

Nach dem Ende

Titel: Nach dem Ende
Autoren: Alden Bell
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durch die Tür.
    Hinter ihr erschallt ein kehliges Schmerzgebrüll, das auf halbem Weg in fauchende Wut umschlägt. Moses Todd kracht gegen den Türstock und stürzt hinkend hinaus in den Gang, gerade als sie auf der anderen Seite den Kopf der Treppe erreicht.
    Ich muss ihn von Maury weglotsen, schießt es ihr durch den Kopf, weg von Maury. Nach draußen. Was auch passiert, es soll draußen passieren. Maury darf nichts davon mitkriegen, er hat schon genug erlebt.
    Sie jagt die Stufen hinunter und reißt die Eingangstür auf.
    Dann verlangsamt sich alles.
    Sie wirft einen Blick über die Schulter. Im Dunkel hebt sich Maurys Gesicht ab, der immer noch sitzend die Glaskugel mit der Blume in der Mitte umklammert und aus dem Speisezimmer zu ihr herausspäht.
    Maury. Wieder und wieder durchzuckt sie der Name. Maury, Maury, Maury. Wie um sich für immer festzusetzen. Wie um sich in das alte Leder ihres müden Gehirns zu stanzen. Und auf einmal vermischt er sich mit einem anderen Namen. Malcolm. Wieder Malcolm. Immer Malcolm. So vieles für später aufgehoben. So vieles, das sie sich später vornehmen und überlegen muss, sobald sie einen ruhigen Moment findet.
    Maury.
    Sie wendet sich ab und rennt durch die Tür, ein, zwei, drei, vier Stufen hinunter, und dann steht plötzlich das Mädchen vor ihr.
    Als sie sie bemerkt, ist es schon zu spät.
    Es ist Millie, die junge Mutantin. Erbin der Erde. Millie mit Zähnen wie Schaufeln, ein Kind von grotesker Größe, eine Puppe, die Temple überragt, die Haut an den Gelenken zerrissen und an einer Hand völlig abgeblättert – als würde sie innen schneller wachsen als außen.
    Sie trägt dasselbe karierte Kleid wie beim letzten Mal, als Temple ihr begegnet ist. Und auch ihre Stimme ächzt und schnaubt genauso undeutlich und stumpfsinnig wie damals: Dich murks ich ab.
    Sie hält etwas in der Hand, richtet es unbeholfen auf Temple.
    Erst nachdem Temple den Schuss gehört hat, begreift sie, dass es ein Gewehr ist.
    Temple sackt mit den Knien auf den nassen, verwilderten Rasen des Vorgartens.
    Etwas ist falsch. So falsch, dass sie es am ganzen Körper spürt. Sie spürt es in den Zehen, hinter den Augen und in den Knien, die schon feucht sind vom Gras, und ganz tief drinnen.
    Etwas ist falsch, und als sie eine Hand an die Brust legt und auf ihre Finger schielt, begreift sie, was es ist. Blut. Das Leben qillt durch ein Loch aus ihr heraus. Hier, in der Geisterstadt Point Comfort sickert es aus ihr heraus.
    Es ist kein Schmerz – nur eine Reise.
    Auf den Knien verharrt sie reglos wie eine Betende, die auf den Empfang der Kommunion wartet. Ruhe kehrt ein. Plötzlich gibt es keine Eile mehr. Für alles ist Zeit. Für die Winde, die wehen, und für das Regenwasser, das in den Rinnen trocknet, für Maury, um sich einen sicheren Ort in der Welt zu suchen, für Malcolm, um von den Toten zurückzukehren und sie nach Vögeln und Flugzeugen zu fragen. Und auch für die großen Dinge wie Schönheit und Vergeltung, Ehre und Gerechtigkeit, für die Gnade Gottes und das langsame Verströmen der Erde vom Tag in die Nacht und wieder in den Tag.
    Alles erstreckt sich vor ihr, verdichtet zu einem einzigen Moment. Alles wird sie sehen können – wenn sie es schafft, die schläfrigen Augen offen zu halten.
    Es ist wie in einem Traum. Ein Traum, in dem man sich unter Wasser befindet und kurz in Panik gerät, bis man merkt, dass man nicht mehr atmen muss und für immer unter der Oberfläche bleiben kann.
    Sie spürt, wie sie zur Seite kippt. Es passiert ganz langsam, und sie erwartet einen harten Aufprall, doch der kommt nicht, weil ihr Bewusstsein hierhin und dorthin springt und nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, wie der Mond über ihr und die Fische unter ihr und sie schwebend dazwischen, wie auf dem Fluss, treibend zwischen Meer und Himmel, die Welt nur noch Haut, und sie ein Teil davon.
    Moses Todd hat ihr erzählt, dass einem die Spucke wegbleibt, wenn man sich vor den Niagarafällen übers Geländer beugt, so als würde man von innen nach außen gestülpt. Und der Jäger Lee hat ihr erzählt, dass die Leute früher in Fässer gestiegen und über die Klippe geschossen sind.
    Und so geht es ihr jetzt auch, sie schwebt hinaus über den Abgrund zu den Fällen, und so betäubend laut tost das Wasser, dass sie gar nichts mehr hört, als hätte sie Polster in den Ohren, und das Wasser, das genau die Temperatur ihrer Haut hat, stürzt, stürzt mit ihr, und das Wasser gehört zu ihr, alles gehört zu
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