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Mystic

Mystic

Titel: Mystic
Autoren: Mark T. Sullivan
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Wassers die emotionalen Schrauben lösen, die in seinem Kopf fest angezogen waren.
    Der Fluss war immer noch hoch und wild, aber Gallagher machte nicht an diesem Ufer halt. Er benutzte die mit Spikes versehene Wateausrüstung, um sich den Weg in die reißende Strömung zu ertasten. Zweimal strauchelte er und konnte nur knapp das Gleichgewicht halten gegen den ständigen Druck, der auf seine Kniekehlen ausgeübt wurde.
    Endlich fand Gallagher sicheren Stand auf einer Sandbank und befestigte einen hellroten Blinker an der Angel, die einzige schwache Hoffnung, dass in dem aufgewühlten Wasser eine Forelle biss. Dann ließ er ein wenig Schnur ab und hob die Angelrute auf ein Uhr, bevor er die Spitze mit steifem Arm nach vorn schnellen ließ, um sie bei zehn Uhr abrupt zu stoppen. Im nasskalten Nebel straffte sich die Schnur auf ihrem Weg nach hinten, beschrieb bei der Vorwärtsbewegung einen Bogen, flog dann sauber nach vorn und sank am gegenüberliegenden Ufer ins zimtfarbene Wasser. Er holte schnell die Schnur ein, bis der rote Blinker wieder an der Wasseroberfläche erschien, hob die Angelrute und warf noch einmal. Die ein ums andre Mal ausgeführten fließenden Bewegungen leerten seinen Kopf, wie ein Mantra das bei einem buddhistischen Mönch vermag.
    Als nach einer halben Stunde noch immer kein Fisch angebissen hatte, wählte Gallagher einen gelben Marabu, einen Köder, der eher in den Gewässern des Westens benutzt wird, warf ihn aus und beobachtete, wie seine fluoreszierende Sinkschnur rasch stromabwärts trieb. Seine Gedanken kehrten trübsinnig zu seiner misslichen Lage zurück. Er beging seinen vierzigsten Geburtstag allein in einer Hütte irgendwo im ländlichen Vermont, während seine Exfrau Emily wieder heiratete. Es war eine Übung in größtem Selbstmitleid, aber Gallagher war das gleichgültig, und er hatte sich schon darauf eingestellt, völlig in diesem Gefühl zu versinken, als die Spule an seiner Angelrute zu rotieren begann und mehr Schnur ins schäumende Wasser zog. Die Angelschnur tanzte in einer Schlangenlinie hypnotisch hin und her. Sie wurde zu allen Angelschnüren, die Gallagher je geworfen hatte, auch zu der, die über seinen Kopf hinweggesurrt und im schlammigen Wasser des Ganges versunken war. Sechs Jahre zuvor.
    Das Ghat, die breite Steintreppe, die das Flussufer bildete, wimmelte von Männern, Frauen und Kindern, die darauf warteten, im Wasser des Flusses baden zu können. Ziegen meckerten. Eine Kuh muhte in der Spätnachmittagssonne. Sechs halb eingeäscherte Leichname lagen auf der untersten Stufe am Wasser und warteten darauf, in die Mitte des heiligen Flusses gebracht und in die Ewigkeit entlassen zu werden.
    Gallagher achtete nicht auf die erstaunten Blicke, die seine Angelausrüstung auf sich zog, und watete vom Ghat in die Strömung hinein. Er rechnete nicht mit irgendeinem Fang. Aber es war ein langer Reisetag gewesen, und er hatte jetzt das Bedürfnis, das Wasser um sich zu fühlen. Nachdem er die Angelschnur eine halbe Stunde ausgeworfen und wieder eingeholt hatte, war er dem Zauber des Ganges erlegen.
    »Orvis kommt nach Allahabad«, rief eine rauchige Frauenstimme plötzlich. »Hat man so was schon gesehen!«
    Gallagher hielt in seinen Bewegungen inne und warf einen Blick über die Schulter. Die Stimme gehörte zu einer stark gebauten Frau mit einem dicken, blonden Pferdeschwanz, der unter einer Boston-Red-Sox-Baseballmütze hervorlugte. Sie hatte ein kantiges, sommersprossiges Gesicht, blitzende grüne Augen, eine kecke Nase und einen Ausdruck, als wäre sie ständig in Gedanken. Sie trug eine runde Sonnenbrille und einen roten Batikrock, den sie hochgezogen und an ihren Hüften festgesteckt hatte. Ein einfaches, weißes T-Shirt bändigte ihre freischwingenden Brüste. Eine Leica baumelte ihr um den Hals, über ihrer Schulter hing eine Kameratasche. Sie kam weiter in die Strömung gewatet, sah Gallagher von oben bis unten an und lachte laut los.
    »Ein paar Freunde haben mich da oben auf der Straße angehalten, um mir zu erzählen, dass irgendein verrückter Amerikaner rote Federn an einer orangenen Schnur in den Ganges wirft«, sagte sie schließlich. »Vielleicht bin ich ja auch nicht ganz dicht, aber das musste ich einfach sehen.«
    »Die Einheimischen zum Lachen bringen ist nur ein Teil meines Jobs«, frotzelte Gallagher zurück.
    Bevor sie antworten konnte, tauchte eine mehrere hundert Köpfe zählende Menschenmenge auf der obersten Stufe der Steintreppe auf; die Menschen
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