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Mysterium

Mysterium

Titel: Mysterium
Autoren: David Ambrose
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merkwürdige Gefühl, dass er einen Augenblick braucht, um sich zu konzentrieren und sich ins Gedächtnis zu rufen, wer ich bin und warum er mit mir spricht.
    »Überprüfen Sie das«, sagt er nach einer Weile, als wäre dieser Ratschlag eine von mehreren Alternativen, aus denen er wählen muss. »Ich hätte schon vor Jahren etwas tun sollen. Irgendwie ist es jetzt zu spät. Aber vielleicht auch nicht.«
    Ich sehe ihn an und bete, dass er kein Verrückter ist, keiner dieser Wirrköpfe, die zur Polizei gehen und jedes größere Verbrechen gestehen, von dem sie hören.
    »Behalten Sie es«, sagt er. »Es gehört jetzt Ihnen. Überprüfen Sie es. Ich muss jetzt gehen.«
    Er macht ein paar Schritte rückwärts und sieht mich an, als wollte er sich versichern, dass ich ihn richtig verstanden habe; dann dreht er sich abrupt um und geht davon.
    »Warten Sie«, sage ich rasch. »Wo kann ich Sie erreichen?«
    Er bleibt stehen, dreht sich um und sieht mich an.
    »Sie werden mich nicht brauchen. Das da ist alles, was Sie benötigen. Tun Sie nur, was ich gesagt habe – überprüfen Sie es.«
    Er geht weiter. Ich fühle mich hilflos.
    »Wie haben Sie von mir erfahren?«, rufe ich ihm nach.
    »Das ist nicht wichtig«, ruft er zurück. »Tun Sie nur, was ich gesagt habe.«
    Ich blicke wieder auf das Stück Papier in der unergründlichen Sprache und mit dem verwaschenen Foto eines Mädchens, das jeder und niemand sein kann. Ich muss wenigstens eine Telefonnummer von dem Mann bekommen und blicke hoch, um dem Mann noch einmal nachzurufen.
    Doch er ist verschwunden. In der Ferne kann ich noch das leiser werdende Klappern seiner Schritte hören. Er muss nach links in eine Seitenstraße eingebogen sein, die ich von meinem Standort aus nicht sehen kann, und ich habe keine große Lust, ihm in der Dunkelheit zu folgen. Ich werde ihn wiederfinden, wenn ich muss. Lenny Reardon.
    Im Augenblick brauche ich nur jemanden, der Deutsch versteht.

60
    Es sind nur zwei Monate vergangen, doch sie sind mir wie Jahre erschienen.
    Murray Schenk hat sich bereit erklärt, mir zu helfen. Er muss jetzt Mitte oder Ende siebzig sein, aber er hat sich nur wenig verändert. Er geht immer noch zum Angeln. Und er denkt immer noch an Melanie Hagan und meinen Vater. Er war sich nie ganz sicher, ob der Gerechtigkeit Genüge getan wurde, und das beunruhigt ihn zutiefst.
    Sobald ich den Zeitungsartikel ins Englische hatte übersetzen lassen, brachte ich ihn Murray. Der Artikel enthielt alle Einzelheiten, die er benötigte, darunter den Namen des Polizeibeamten, der die Untersuchung geleitet hatte und der noch lebte, wie Murray nach ein paar Anrufen herausfand. Das Verbrechen selbst ähnelte in seiner Gewalttätigkeit und sexuellen Brutalität bemerkenswert dem Mord an Naomi Chase.
    Ich beschloss, meiner Mutter nichts von den Ereignissen zu erzählen. Es wäre zu grausam, ihr Hoffnungen zu machen, nur um wieder enttäuscht zu werden. In ihren Augen liegt in diesen Tagen eine Abgestumpftheit und ein Ausdruck der Niederlage, die ich kaum ertragen kann. Ihr Gesicht ist faltig und schmal geworden, ihr Haar fast völlig weiß. Ich muss erst Gewissheit haben, bevor ich ihr etwas sage.
    Für die Flüge nach Europa, die Anwaltsgebühren und andere, damit zusammenhängende Ausgaben habe ich mein Geld bis auf den letzten Cent verbraucht. Aber heute kam der Anruf. Jetzt habe ich Gewissheit.
    Sie schluchzt wie ein Kind. Ich halte sie in den Armen.
    Die Deutschen hatten DNA-Muster vom Tatort des Mordes aufbewahrt. Sie stimmen exakt mit denen von Brendan Hunt überein. Sowohl Murray Schenk als auch der Anwalt, der meinen Vater bei seinem Prozess verteidigt hat, erklären, dass der Fall zweifellos wieder aufgerollt wird. Außerdem gibt es keinen Zweifel, dass der Schuldspruch gegen meinen Vater aufgehoben und dass er freigelassen wird. Es wird eine Haftentschädigung geben, sagt unser Anwalt, wahrscheinlich eine beträchtliche Summe, auch wenn das meiner Mutter und mir wenig bedeutet. Dennoch wird das Geld nützlich sein. Meine Eltern werden ihre Existenz wieder ganz neu aufbauen müssen. Sie werden das Geld brauchen.
    Ich habe meine Mutter ins Bett gebracht. Sie ist erschöpft. Ich habe ihr sogar vorgeschlagen, eine Schlaftablette zu nehmen. Dazu rate ich nur selten, doch sie ist zu aufgeregt, um ohne Tablette einzuschlafen, und sie braucht eine ruhige Nacht. Morgen wird sie aufwachen, und dann wird ihr dämmern, dass ihr Albtraum vorbei ist, dass die gute Nachricht, die sie nur zu
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