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Mysterium

Mysterium

Titel: Mysterium
Autoren: David Ambrose
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irgendeinem Grund zögere ich. Der Mann kommt einen weiteren Schritt auf mich zu. Jetzt kann ich sein Gesicht sehen. Es ist schmal, glatt rasiert und wirkt bleich. Sein pechschwarzes Haar ist straff zurückgekämmt und glänzt vor Haargel. Sein Alter ist schwer zu schätzen; er könnte vierzig sein, aber auch zehn oder mehr Jahre älter. Wir sehen uns an. Ich blicke von den Stufen zu ihm hinunter, er zu mir herauf. Er scheint etwas sagen zu wollen, überlegt es sich dann aber anders. Einen Augenblick habe ich das seltsame Gefühl, dass er ebenso wenig weiß, was er hier tut, wie ich selbst.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, frage ich.
    »Ich … ich glaube, wir sollten miteinander reden«, erwidert er, als würde es ihn Mühe kosten, diesen Entschluss zu fassen.
    »Worüber?« Ich bewege mich immer noch nicht von der Hoteltür weg, wenn ich auch inzwischen den Arm habe sinken lassen.
    Er runzelt die Stirn, als hätte er Mühe, sich daran zu erinnern, warum er mit mir sprechen will. Er hat etwas Fremdartiges an sich, irgendetwas, das nicht stimmt. Ich werde langsam unruhig.
    Aber dann sagt er: »Es geht um Brendan Hunt. Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«

59
    Die Straße ist merkwürdig ruhig – ruhiger, als ich es in den vergangenen Tagen erlebt habe, die ich hier war. Ein vereinzeltes Fahrzeug überquert in der Ferne eine Kreuzung, doch davon abgesehen gibt es keinen Straßenverkehr, noch sehe ich Fußgänger.
    Ich bin zum Bürgersteig hinuntergestiegen und stehe dem Mann nun gegenüber. Er ist kleiner als ich. Die Hände hat er tief in den Manteltaschen vergraben. Er könnte ein Messer oder eine Waffe zücken, doch irgendwie glaube ich nicht, dass er das vorhat.
    »Wer sind Sie?«, frage ich.
    Er runzelt die Stirn und blickt auf den Boden. Ich kann nicht erkennen, ob er überlegt, seinen Namen zu nennen oder nicht, oder ob er sich an seinen Namen zu erinnern versucht.
    »Lenny Reardon«, sagt er schließlich und sieht mich direkt an, als wäre er sich über irgendetwas klar geworden und wüsste nun, was er zu tun hat. »Ich heiße Lenny Reardon«, wiederholt er. »Ich war mit Brendan Hunt zusammen in der Schule. Ich … also, ich hätte Ihnen das schon vor einiger Zeit geben sollen … Ihnen oder jemand anderem. Es hätte vielleicht alles geändert.«
    Ohne dass ich es richtig mitbekommen habe, hat er eine Hand aus der Tasche gezogen und in die Innentasche seines Mantels gegriffen. Nun hält er mir ein gefaltetes Blatt Papier entgegen.
    »Was ist das?«
    »Sie werden schon sehen. Bitte nehmen Sie es.«
    Ich tue, was er sagt, und entfalte das Papier im Licht der Straßenlaterne. Es ist ein vergilbter Artikel, aus einer Zeitungsseite ausgeschnitten. Er ist auf Deutsch, eine Sprache, die ich eine Zeit lang in der Schule gelernt habe, von der ich aber kein Wort mehr sprechen kann.
    Wie als Antwort auf die Frage, die ich ihm gerade stellen will, zeigt er auf das verwaschene Bild eines Mädchens von vielleicht sechzehn Jahren. Der Bildunterschrift zufolge heißt sie Hanna. Den Familiennamen kann ich kaum lesen, geschweige denn aussprechen.
    »Wir haben mit der Klasse mal eine Reise nach Deutschland gemacht«, erklärt Lenny Reardon. »Eines Abends in Hamburg hat man uns für ein paar Stunden von der Leine gelassen. Wir sind durch die Striplokale und Pornoläden gezogen, offensichtlich genau das Richtige für einen Haufen geiler Fünfzehnjähriger aus dem Mittelwesten. An dem Abend habe ich Brendan Hunt mit diesem Mädchen in einer Spielhölle gesehen. Ich konnte nur einen kurzen Blick auf sie werfen, bin aber sicher, dass es dieses Mädchen hier war. Dann sind sie beide verschwunden. Als ich Brendan später wiedersah, habe ich ihn gefragt, was mit dem Mädchen los sei. Er sagte, dass es kein Mädchen gäbe, dass ich mich irren müsse. Dann, am nächsten Morgen, habe ich das hier in den Zeitungen gesehen.«
    Er macht eine Pause und starrt immer noch auf den vergilbten Zeitungsausschnitt, als wäre der ein Stichwortzettel, auf dem er die richtige Stelle nicht findet.
    »Was soll ich damit machen?«, frage ich ihn. »Inwiefern wird mir das helfen?«
    »Ich habe Brendan nie erzählt, dass ich das gesehen habe. Ich habe es auch sonst niemandem erzählt. Ich wollte es einfach nicht glauben, nehme ich an. Oder ich konnte es nicht. Aber ich habe es die ganze Zeit aufbewahrt.«
    »Sagen sie mir nur, was ich jetzt tun soll«, bitte ich ihn. »Ich verstehe überhaupt nichts.«
    Nun sieht er mich an, und wieder habe ich das
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