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Mysterium

Mysterium

Titel: Mysterium
Autoren: David Ambrose
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von Naomi, von ihren ersten Schritten bis zu einem, das nicht lange vor ihrem Tod aufgenommen worden sein musste. Es zeigt die ganze Familie auf ihrem Boot draußen auf dem See. Cassie Hunt, ihre beste Freundin, ist auch dabei. Die Fotos kommentiert Warren Chase nicht; er weiß, dass ich die Mädchen erkenne.
    Als wir in den anderen Raum zurückkehren, sehe ich, dass Mrs. Chase sich still zu uns gesellt hat. Sie ist eine zarte, hübsche Frau, deren Bewegungen ein wenig an einen Vogel erinnern, mit einem rasch aufblitzenden Lächeln, das ihr Gesicht aufleuchten lässt. Sowohl sie als auch ihr Mann, das kann ich bereits erkennen, haben die Gabe, für andere da zu sein und ihre ganze Aufmerksamkeit dem zu schenken, mit dem sie gerade sprechen, wer immer es sein mag. Jedenfalls geben sie mir dieses Gefühl. Es ist eine besondere Art der Freundlichkeit, die vielleicht entsteht, wenn man in seinem Leben eine Tragödie erlebt hat, die einen sensibler macht für die Schmerzen und Bedürfnisse der anderen.
    Das Hausmädchen stellt ein Tablett mit Tee und einigen Kleinigkeiten zu essen auf einen Couchtisch. Mrs. Chase sitzt neben mir und schenkt mir ein.
    »Ihr Brief hat uns beide tief berührt, Miss Freeman«, sagt sie. »Wir wissen nicht viel über den Fall Ihres Vaters, nur was Sie uns erzählt haben. Aber er muss ein glücklicher Mann sein, dass er eine Tochter hat, die alles für ihn tut.«
    »Danke«, sage ich leise. Es macht mich immer verlegen, wenn man mir Komplimente macht, dass ich etwas tue, was ich ohnehin tun muss. Wie könnte ein Kind nicht dasselbe für den Vater tun? Ich bin nichts Besonderes.
    »Wie ist Ihr Besuch bei Judith Hunt verlaufen?«, fragt Warren Chase.
    Ich schildere es kurz. Er nickt gedankenvoll, als wäre es ziemlich genau das, was er erwartet hat.
    »Judith hat sich im Lauf der Jahre immer mehr von der Welt zurückgezogen. Wir waren einmal gute Freunde, aber jetzt sehen wir uns kaum noch. Nach Cassies Tod ist ihre Ehe zerbrochen, und sie hat eine lange, schlimme Zeit durchgemacht. Letztendlich hat sie sich daraus befreit, aber sie war nicht mehr dieselbe. Das ist ja zu verstehen. Brendans Tod hat ihr dann den Rest gegeben.«
    Ich erwähne nicht die Möglichkeit einer Verbindung zwischen dem Tod der beiden Mädchen – noch nicht. Stattdessen sprechen wir darüber, wie ich mich darangemacht habe, alles zu erfahren, was es über Brendan Hunt herauszufinden gab, und jeden aufzuspüren, der ihn jemals gekannt hat. »Ich habe nur die offiziellen Berichte über Cassie Hunts Tod gelesen«, sage ich. »Dazu noch das Material, das ich in den Zeitungsarchiven gefunden habe. Ich habe mich gefragt, ob Sie etwas wissen, das nicht veröffentlicht wurde.«
    Sie tauschen einen Blick. Ich glaube, dass ich vielleicht einen empfindlichen Punkt berührt habe, der zwischen ihnen unausgesprochen geblieben war. Warren Chase antwortet vorsichtig auf meine Frage und wählt jedes Wort mit Bedacht.
    »Brendan war der Letzte, der seine Schwester lebend gesehen hat. Ihm zufolge hat er versucht, sie zu retten, aber es scheint, dass er nicht genug Kraft hatte.«
    Ihm zufolge? Es scheint?
    »Hatten Sie jemals den Verdacht, dass mehr dahinter steckt?«, frage ich.
    Wieder treffen sich ihre Blicke, bevor Warren Chase fortfährt: »Wir haben von Naomi haarsträubende Geschichten darüber gehört, was sie damals alles ausgeheckt haben, und über die Kämpfe zwischen den beiden. Damals haben wir es einfach als die übliche Rivalität zwischen Bruder und Schwester abgetan. Aber nach dem, was passiert ist …«
    Er öffnet leicht die Hände, um eine offene Frage anzudeuten, und möglicherweise einen offenen, unvoreingenommenen Geist. Ich bemerke, wie seine Frau ihn immer noch anschaut und den Verdacht bestärkt, den meine Fragen nach und nach aufkommen lassen.
    Ich frage: »Wurde Brendan Hunt jemals über den Tod seiner Schwester vernommen?«
    »Nur kurz«, antwortet Warren Chase, »gerade genug, um die Fakten zu ermitteln, so wie er sich daran erinnerte. Der Gerichtsmediziner ist zu dem Schluss gekommen, dass es ein Unfalltod war.«
    Ich lasse einen Augenblick das Schweigen zwischen uns hängen, bevor ich meine nächste Frage stelle. »Was den Mord an Ihrer Tochter betrifft – sehe ich es richtig, dass es in dem Fall nie einen Verdächtigen gegeben hat?«
    »Die Polizei ist nie auf eine ernst zu nehmende Spur gestoßen«, sagt Chase. »Die Beamten hatten die Vermutung, dass es irgendein umherstreifender Killer gewesen ist, der am
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