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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn
Autoren: Martin Walser
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erfuhr, desto mehr hoffte ich, auf Einzigartigkeit verzichten zu können. Als ich sah, wie ähnlich ich anderen war, fühlte ich meine Mängel, wenn nicht entschuldigt, so doch aufgehoben in einer allgemeineren Mangelhaftigkeit. Manchmal kriegte ich deswegen sogar etwas Stolzes. Nichts übermäßig Stolzes. Etwas Bescheiden-Stolzes. Ich sah mich dann mit meinen Mängeln im Morgenrot stehen, sah meine Mängel angeleuchtet von einer mehr Licht als Wärme spendenden Morgensonne und war einverstanden mit der Deutlichkeit, in der meine Mängel jetzt erschienen, und ich sagte: Also. Und rannte davon. Der wollte ich auch nicht sein. Ich habe mich nie mit mir eins fühlen können. Jeder konnte mich aus mir vertreiben. Aber meine Mutter hat das nicht zugelassen. Sie hat mich in mir befestigt. Du bist ein Engel ohne Flügel, hat sie gesagt. Mehr als einmal. Und so, dass ich’s glauben konnte. Ich habe immer mehr geglaubt als bezweifelt.
    Und das auch noch: Was ich euch sage, ist gering. Nur dass ich es sage, zählt. Vielleicht.
    Dann, ganz leise:
    Nun habt ihr gut geschlafen
    und wünscht euch fort von hier
    zu Kräutern und zu Schafen,
    und zwei mal zwei bleibt vier.
    Einziehen, schließen, falten,
    eben leben, keine Steigerung,
    den Fall nicht nähren,
    nur Schnüre entwirren
    und sorgsam enden.
     
    Und an die Orgel, und eingeleitet.
    Die Leute haben mitgesungen. Heftig. Er hat den Saal so verlassen, dass er niemandem begegnen musste. Er hätte sich geniert. Das weiß er heute noch.
    Als Percy jetzt die im Bogenschwung nach oben in den ersten Stock führende Treppe hinaufging, schwebte er wieder. Wenn er diese Treppe hinauf- oder hinabging, schwebte er. Er war oft genug mit dem Professor diese Zeit lassenden Stufen hinauf- oder hinabgegangen. Der hatte das gesagt, dass einen diese Treppe schweben lasse. Diese Treppe sage alles, sagte der Professor. Man schwebe doch aufwärts genau so wie abwärts. Keinesfalls dominiere das Gefühl, man gehe aufwärts oder gehe abwärts. Das hörte Percy gern, das übertrug sich auf ihn. Seit dem schwebte er, der Engel ohne Flügel, aufwärts und schwebte abwärts und spürte es förmlich, dass die den Treppenschwung begleitenden, die gemalten Äbte, die Reichsprälaten, ihn mit Sympathie betrachteten. Dann an der Gangwand, von der Fensterfront mit Licht bedient, ein Abt-Bild nach dem anderen. Alle mit Hermelin und Gold und Edelsteinen und jeder mit eigenem Wappen. Bei einem blieb er immer stehen: Eusebius Feinlein. Natürlich hatte auch er sich wie alle seine Abtskollegen ein Wappen malen lassen. Drei goldene Ringe im roten Feld. Seine Mitra war die schönste. Gold- und Silberfäden hatten alle, aber er hatte dazu noch farbige Muster erfundener Blumen. Er hatte sich mit weißen Handschuhen malen lassen und trug über diesen Handschuhen am Mittelfinger seiner rechten Hand einen Ring. Aber er war der Einzige, der mitten auf dem Rücken seiner weißen Handschuhhand die Gemme der Stigmatisation trug. Draufgenäht, hatte der Professor gesagt, als er sah, dass Percy gar nicht mehr wegschauen konnte von dem roten Mal.
    Als Percy mit dem Professor vor dem Vorfahr stehen geblieben war, hatte der Professor gesagt: Wenn ich damals auf die Welt gekommen wäre, hätte ich auch Abt werden wollen in Weißenau oder Schussenried oder Obermarchtal oder Rot oder Zwiefalten oder Wieblingen oder eben, wie mein Vorfahr Eusebius, in Scherblingen. Zumindest Chorherr wäre ich geworden. Als Scherblingen 1803 aufgehoben wurde, habe der Konvent neununddreißig Chorherren gehabt. Darunter begabte Tagebuchschreiber. Er habe vor, sobald er seine Landeskrankenhauszeit hinter sich habe, in den Papieren von damals zu verschwinden.
    Als vor zwölf Jahren die Klosterbauten endgültig verlassen wurden, hatte der Professor sein Sekretariat in den dafür bestimmten Neubau verlegen müssen. Aber er hatte keinen Stuhl und keine Lampe und keine Schublade mit hinübergenommen. Zu Percy: Drüben arbeite ich, hier leb’ ich, beinah hätte ich gesagt: bete ich. Das verstanden nicht alle.
    Percy hätte jedes Mal viel länger stehen bleiben können. Dieser Gang. Ein Kunstwerk aus Licht und Stein. Links die Türen, rechts die Fenster. Die dicken Mauern machten aus jedem Fenster eine Nische. Eine Lichtnische. Die Decke spiegelte sich mit allem Stuck im glänzenden Boden. Die letzte Tür war die zur Prälatur. Jetzt: Prof. Dr. Dr. Augustin Feinlein. Wenn Percy dieses Schild vor Augen hatte, dachte er an Innozenz, der sagte, auch Namen
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