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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn
Autoren: Martin Walser
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Beine. Er warf die Füße voraus, die Fußspitzen fast grotesk nach außen gedreht. Den Kopf richtig hochgereckt. Er erlebte sich als Gehenden so deutlich, dass er wusste, jeder, der ihn so gehen sah, musste denken: Was ist denn mit dem los! Und genau das war ihm recht. Er drückte aus, führte vor, wie wohl es ihm war. Seine Mutter hatte ihm mehr als einmal gesagt, dass er sich trotz seiner Leibesfülle wunderbar bewege. Man sehe ihm an, dass er eins sei mit seinem Körper. Jede seiner Bewegungen sei eine Energiekundgebung. Jede seiner Bewegungen drücke aus, dass er mehr Energie habe als er brauche. Und: dass er Herr seiner Energie sei. Dass seine Energie ihm diene. Und das mache alle seine Bewegungen schön. Du bist ein Engel ohne Flügel, hat sie gesagt. Mehr als einmal. Und immer, dass es klang, als sei das etwas Schönes, ein Engel ohne Flügel. Wenn Mutter Fini an ihm etwas nicht gefiel, konnte sie ihn aufs gröbste herunterputzen; dann demonstrierte sie ihm, wie sehr sie leide, wenn ihr etwas an ihm nicht gefiel. Das machte ihr Lob vertrauenswürdig.
    Tatsächlich fühlte sich Percy inzwischen in seinem Körper so wohl, dass er vielleicht auch ohne den andauernden hymnischen Zuspruch der Mutter ausgekommen wäre. Oder war, dass er sich in seinem Körper so wohlfühlte, die Wirkung des unaufhörlichen mütterlichen Zuspruchs? Im Augenblick fühlte er sich wohl, weil ihm dieser Kontakt zu Friedlein Vogel gelungen war. Und er wusste, Friedlein Vogel würde heute und vielleicht auch noch morgen Percy preisen. Das war das Wichtigste. Überall, wo er erschien, wollte er rühmenswert sein. Er hatte das Gefühl, alle rühmenden Sätze, irgendwo von irgendwem gesprochen, schwebten in die Höhe und sammelten sich droben in einem himmlischen Gewölbe und blieben dort als ein jederzeit abrufbares Echo. Ach, er war jetzt glücklich. Und wenn er glücklich war, dachte er an die Mutter. Ich bin geleitet, sagte die Mutter immer. Percy sagte dann: Ich auch. Am frühen Abend eines 24. Dezembers wird er zwischen Brauchlingen und Merklingen bei Schneetreiben von einem Auto angefahren, in den Straßengraben geschleudert, das Auto fährt weiter, er liegt, kann sich nicht mehr rühren, aber seinen Lederhut kann er noch mit seinem Stock in die Straße hinaushalten, also sieht der Pfarrer Studer, der von einer Kindergartenbescherung in Brauchlingen heimfahren will nach Merklingen, Stock und Hut in seinem Scheinwerferlicht. Percy wird gerettet. Von einem Pfarrer Studer. Seit dem kennt er den. Fräulein Hedwig, die Pfarrköchin, erzählt Percy, als er im Frühjahr kommt, um zu danken, der Pfarrherr habe über Percy sogar gepredigt. Eine ganze Predigt habe davon gehandelt, wie der Pfarrherr am Einnachten noch unterwegs war von Brauchlingen heimwärts, dann auf einmal einen Stock mit einem Hut im Scheinwerferlicht hat. Schräg in die Höhe, aus einem Straßengraben heraus, steht da ein Stock mit einem Hut dran. Und bremst, geht hin und findet einen Verletzten, der aber noch den Stock mit dem Lederhut in die Straße hinaushalten kann. Der Verunglückte ist bei Bewusstsein, der Pfarrherr ruft den Notdienst her und bleibt da, bis das Krankenauto kommt. Bevor er geht, will der Verunglückte noch wissen, wer ihn gerettet hat. Der Pfarrer sagt’s ihm. Und der Verunglückte sagt: Ich gratulier’! Das kommt dem Pfarrherr komisch vor. Er fragt, wie er das verstehen soll. Weihnachtsabend, sagt der Verunglückte, sagt es mühsam, weil ihm jetzt doch alles wehtut, ich gratulier’ Ihnen dazu, dass Sie mich gerettet haben. Aha, sagt der Pfarrherr. Und der Verunglückte: Überlegen Sie sich’s, dann kommen Sie drauf. Und wird in das Krankenauto geschoben. Der Pfarrherr hat sich’s überlegt und hat dann an Dreikönig darüber predigen können, dass er dankbar sei, weil er am Weihnachtsabend habe ein Leben retten dürfen.
    Als die Pfarrköchin das Percy erzählte, sagte der: Und was für eins! Meins! Und beide lachten.
    Fräulein Hedwig gegenüber sprach er es zum ersten Mal aus, dass er keinen Vater hatte. Sie meinte natürlich, er sei ein Halbwaise oder der Vater habe sich davongemacht. Er aber, ohne in einen rechthaberischen Ton zu verfallen: Nein. Meine Mutter hat es mir gesagt, dass sie mich geboren habe, ohne dass vorher ein Mann nötig gewesen sei. Dass Fräulein Hedwig dann kein bisschen staunte! Sondern seine beiden Hände nahm und sagte, ihr sei Percy gleich so vorgekommen, als sei er nicht wie alle anderen. Pfarrer Studer kam, als
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