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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn
Autoren: Martin Walser
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Schwester Hedwig es ihm weitergesagt hatte, geradezu fröhlich auf Percy zu und sagte: Auf so einen haben wir gewartet. Und lachte. Percy wusste nicht, was er sagen sollte, also nickte er. Auf jeden Fall, sagte der Pfarrer, sei es ein wunderbarer Einfall, und er hoffe bloß, Percy werde sich nicht drausbringen lassen.
     
    Jedes Mal, wenn Percy aus dem Klinik-Wald ins Freie trat, blieb er stehen, atmete ein, was er sah. Das Kloster. Die Nordseite, die Rückseite des Baus, der auf der Vorderseite, nach Süden, mit zwei Seitenflügeln vorsprang und in dieses offene U die Stiftskirche hineinragen ließ. Das Kloster hatte es vom hohen Mittelalter bis zu seiner Aufhebung auf einen Umschwung von zwölf Hektar gebracht. Zuletzt hatte das Psychiatrische Landeskrankenhaus diese zwölf Hektar mit allem Drauf und Dran geerbt. Mindestens zwei Hektar davon gehören immer noch dem Wald. Die Klinik-Neubauten sind so im Wald verteilt, dass man nie mehr als einen Bau sieht. Nur die Klosterbauten stehen draußen, im Freien sozusagen.
    Percy fühlte, wie richtig es war, dass sich diese Bauten frei präsentierten, und wie richtig es war, dass sich die Klinik-Neubauten im Wald vor einander verbargen. Er überließ sich jedes Mal diesem mit Staunen gemischten Wohlgefühl, wenn er erlebte, dass dieser Bau mit Hunderten von Fenstern kein bisschen zu groß und er, der Betrachter, kein bisschen zu klein wurde. Die Fenster waren gefasst, weiß gefasst, von Stuckreliefs, also waren sie in Bewegung, lieferten der gewaltigen Fläche Bewegungslinien. Und der Mittelteil des mächtigen Baus sprang vor, auch auf der Rückseite. Und sprang nicht nur vor, sondern hob sich auch ab in der Dachlinie. Und der Aufschwung war nicht nur eine höher hinaufreichende Dachschräge, der Aufschwung gelang zuerst nur zur Hälfte. Ruhte in einer Linie und setzte dann noch einmal an, verjüngte sich noch einmal, um ganz in die Höhe zu kommen. An diesen zwei Aufschwüngen musste sich Percy jedes Mal mitatmend sattsehen, bevor er auf das Gebäude zu- und um es herumging, zum Portal. Dieser zweifache Aufschwung, das war das Dach des Bibliotheksaals. Der Saal plus Galerie brauchte diesen zweifachen Aufschwung. Die links und rechts unerhoben weiterlaufende Dachlinie endete draußen, da, wo die Seitenflügel nach vorn entsprangen, noch einmal in Erhöhungen. Eckpavillons, hatte der Professor diese Aufschwünge genannt. Sie demonstrierten, dass sie der Symmetriebetonung dienten.
    Jedes Mal, wenn Percy diesen Bau beim Anschauen förmlich einatmete, gestand er sich, dass es die Symmetrie war, die er genoss. Er war ein zur Symmetrie verurteilter Mensch. Asymmetrisches schmerzte ihn. Und er war gegen Schmerz. Er gönnte nichts und niemandem die Herrschaft über sich. Es sei denn, er unterwerfe sich freiwillig einer Herrschaft. Aber da er sich keinem Schmerz freiwillig unterwerfen konnte, war er gegen Schmerz. Es gab auch kein zweites Bauwerk in der Welt, das er so einatmete wie dieses. Im Bibliothekssaal hatte er zum ersten Mal in seinem Leben gesprochen. Öffentlich sozusagen.
    Der Professor hatte am Samstag, es war ein Samstag im Mai, gesagt: Manchmal redest du wie ein Wasserfall. Man möchte sich drunterstellen. Sprich doch morgen zu den Patienten und ihren Angehörigen. Nach der Andacht.
    Es ist Mai, hatte der Professor noch gesagt, der Marienmonat.
    Percy hatte gelacht. Mehr grimassiert als wirklich gelacht. Mach’ ich, hatte er gesagt. Er hatte doch selber immer wieder dieses Zu-viel-Gefühl. Er wusste nicht von was, nur dass es zu viel war. Zu viel für ihn selbst. Aber vorbereiten tu ich mich nicht, hatte er gesagt. Das fänd’ ich gemein, vorbereitet zu reden zu unvorbereiteten Menschen.
    Sonntagnachmittag also. Zuerst hatte er sich auf der Orgel in Stimmung gebracht. Noch waren Stühle leer. Es kamen aber immer noch Leute. Dann waren alle Stühle besetzt. Es standen schon Leute. In der ersten Reihe saß der Professor. Professor Dr. Dr. Augustin Feinlein. Percy wusste, dass ihm keiner so zuhören konnte wie der Professor. Er spielte, was seine Hände wollten. Nichts Bombastisches. Er würde, was er spielte, Diminutiv nennen. Wenn er den Mut hätte, müsste er es Ewig nennen. Professor Dr. Dr. Augustin Feinlein war aufgestanden und hatte gesagt, dass er sich freue, Percy Anton Schlugen heute hier zuhören zu können.
    Als der Professor ihn mit beiden Vornamen vorstellte, war ihm eingefallen, wie ihn Luzia Meyer-Horch, als er bei ihr den Schlüssel für die Orgel
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