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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn
Autoren: Martin Walser
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erwarten ist. Politisch ambitionierter Suizidkandidat, das haben sie mir hier als Etikett verpasst. Will ein Signal setzen! Aber was denen erst sehr mühsam klargemacht werden musste: Ein Signal setzen – was für eine eisenbahnerhafte Ausdrucksweise – kann ich nur, wenn ich der berühmte Schriftsteller bin, der zu werden ich zwar jede Fähigkeit habe, aber noch keine Aussicht. Zur geistigen Elite zu zählen, reicht nicht, wenn Sie einen historischen Erleuchtungsblitz beabsichtigen. Intelligenzquotient 147 und im Sprachbereich 180. Inzwischen haben elf Verlage meine Manuskripte abgelehnt. Die Ablehnungsschreiben bewiesen mir durch ihre zum Himmel schreiende Syntax der Inkompetenz, wie gut meine Manuskripte sind. Dass ich keinen literarischen Ehrgeiz habe, sondern eine historische Mission, das geht in diese Feuilletonbirnen nicht hinein. Die amerikanische Führungsclique muss begreifen, dass man heute Frieden nicht per Krieg schafft. Und diese kriegslüsterne Clique wird nicht aufhören, wenn sich nicht ein Schriftsteller vor dem Weißen Haus verbrennt, ein Schriftsteller von säkularem Rang. Seit ich das verlautbarte, werde ich von CIA und MOSSAD verfolgt. Das Bundesinnenministerium, das ich fünfzehnmal um Personenschutz gebeten habe, reagiert nicht. Natürlich nicht. CIA und MOSSAD , das sind Komplizen. Von Krieg zu Krieg haben wir uns daran gewöhnt, dass der Krieg zum einzigen Problemlöser geworden ist. Zuerst schaffen wir Probleme, dann lösen wir sie per Krieg. Natürlich machen wir mal Witze über diesen und jenen US -Präsidenten. Einer immer noch simpler als der andere. Bald müssen wir uns für unsere Hohenzollern nicht mehr genieren. Widerstand ist in der Fernseh-Klamottenkiste verschwunden. Artikel 20,4 Grundgesetz interessiert nur noch Spinner. Wie mich, zum Beispiel. Wenn CIA und MOSSAD mich verschwinden lassen, interessiert das keinen. Wenn ich als epochemachender Autor mich vor dem Weißen Haus verbrenne, bleibt dem US -Koloss die Spucke weg. Ein Weltautor, Nobelpreiskandidat, verbrennt sich vor dem Weißen Haus. Und ich handle, mich verbrennend, so egoistisch wie alle anderen auch. Plato: Der Mensch kann sein Interesse nur dann zu seinem Wohl wahrnehmen, wenn er zugleich die Interessen seiner Mitmenschen bedenkt. Quelle, wo’s steht, wird auf Wunsch nachgereicht. Jetzt, was schreibe ich jetzt, um meine Mission zu erfüllen? Gedichte. Ich les’ Ihnen das allerneueste Gedicht vor, dass Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Und las:
    Ich bin der göttliche Gedanke,
    im Weltdekor die geilste Ranke.
    Ohne mich wäre das Ganze
    ein Blumentopf ohne Pflanze.
    Dann fragte er: Soll ich noch?
    Percy sagte: Ich bitte darum.
    Der:
    Ich habe mich getrennt von dir,
    dass dir’s nicht gehe wie mir,
    die Einsamkeit ist aus schwarzem Eis,
    aber die Westen der Herrn strahlen weiß.
    Er faltete das Papier, reichte es Percy und sagte: Wie finden Sie die Idee, dass ich es jetzt mit Gedichten versuche?
    Ich beneide dich, sagte Percy.
    Wissen Sie, sagte der Hagere, ich bin auf das Gedicht gekommen, als ich erkannt habe, es gibt überhaupt keine schlechten Gedichte. Ein Gedicht sagt immer schon alles. Und das auf kleinem Raum. Das hat mich angezogen. Wer glaubt, es gebe schlechte Gedichte, ist ein Halsabschneider oder Folterknecht oder Stiefellecker. Adieu. Und stoppte noch einmal. Wenn er gelogen habe, könne er nicht mehr gehen, ohne zu befürchten, dass er gleich stürze. Lügen ruiniert bei mir den Gleichgewichtssinn. Also sage ich Ihnen jetzt noch, dass ich gerade gelogen habe. Nicht aus irgendeinem im Moralischen beheimateten Reinheitsdrang gestehe ich das, sondern, weil ich eben, wenn ich gelogen habe, stolpere und stürze. Und das war die Lüge: Dass es überhaupt keine schlechten Gedichte gibt, das habe nicht ich erkannt, sondern Innozenz der Große. Wer denn sonst! Übrigens: Er will meine Gedichte unbedingt in seine Scherblinger Anthologie aufnehmen. Ich will aber erst in eine Anthologie, wenn ich ein Buch habe, ganz allein, für mich. Ein Buch, das ist eine Säule, auf der du stehen kannst, sichtbar der Welt. Adieu. Und ging und blieb noch einmal stehen und sagte: Ich brauche Zeugen. Für meinen letzten Auftritt. Kann ich mit Ihnen rechnen?
    Immer, sagte Percy.
    Danke, sagte der und ging.
    Percy hörte, dass der jetzt summte.
    Percy fühlte sich aufgenommen, ohne zu wissen, wo und von wem. Muss man auch nicht wissen, dachte er. Besonders, wenn man sich wohlfühlt. Bei ihm ging Wohlgefühl immer in die
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