Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
abholte, wie sie, des Professors Sekretärin, ihn begrüßt hatte: Immer wenn Sie zur Tür hereinkommen, Percy, merk’ ich, dass Sie aussehen, wie wenn Sie Anton hießen. Und lachte. Ihr berühmtes Lachen, mit dem sie immer verhinderte, dass jemand mitlachte. Aber dass er ihr Lachen bewundere, sagte Percy jedes Mal.
    Als Percy dann die Menschen vor sich sah, sagte er: Liebe Leute. Dem Leben zuliebe.
    Dann sprach er nicht gleich weiter. Das wurde überhaupt das Wichtigste bei seinem Sprechen. Die Pausen. Die Sätze waren gerahmt von Pausen. Und die Pausen waren keine Verlegenheit.
    Seine Mutter heiße Josefine, weil sie am 19. März geboren worden sei. Ihr Vater habe Josef geheißen, ohne dass er am 19. März geboren worden sei. Die Schlugen seien eine komische Familie gewesen. Die Mutter der Mutter rabiat unfromm, der Vater der Mutter kreuzbrav, erzfromm, andauernd auf Wallfahrt oder doch dabei, die nächste Wallfahrt zu planen.
    Immer nur der Vater Josef und die Tochter Josefine. Nach Heiligenbronn im Schwarzwald, auf den Welschenberg an der Donau, nach Birnau am Bodensee oder auf den Bussen, den heiligen Berg Oberschwabens. Marienverehrung halt.
    Seine Mutter sei immer mitgetippelt, habe natürlich alle Rosenkränze mitgebetet, aber sie habe immer gespürt, dass sie eine Zuschauerin sei. Ihr Vater sei für sie ein Altarbild geworden. Aber sie hat ihm nie sagen können, dass sie bei diesen Wallfahrtsprozeduren innen drin nicht ergriffen worden sei.
    Dann ist der Vater gestorben, und er ist gestorben, als nur sie im Zimmer war, und sein letzter Satz war: Du bist geleitet. Fini, du schaffst es.
    Von da an merkte sie, dass in ihr alles lebte, was sie mit ihm erlebt hatte. Jetzt war sie keine Zuschauerin mehr. Jetzt war sie die Ergriffene. Und hat nicht aufgehört, die Ergriffene zu sein. Und das hat Percy durch sie erlebt, was das ist: ergriffen sein. Ich leb’ dem Leben zuliebe, hat sie gesagt. Mehr als einmal.
    Wieder eine unangestrengte Pause.
    Sein Lieblingspfarrer, Pfarrer Chrysostomus Studer, habe einmal in einer Predigt gesagt, im Neuen Testament komme das Wort Reich Gottes 122-mal vor. Es sei fast immer Jesus selber, der das sage: das Reich Gottes. Und dass er selber das Reich Gottes sei. Aber in einer anderen Predigt habe Pfarrer Studer gesagt, jeder trage das Reich Gottes in sich. Er, Percy, gebe zu, dass das ein schöner Ausdruck sei: Reich Gottes. Das hat was. Aber man weiß nicht, was es hat. Auf ihn wirke es wie Musik oder wie eine Droge. Er könne aber zu anderen nicht über Musik oder Drogen sprechen.
    Dann hat er gesagt, ihm wäre es unangenehm, wenn er jetzt etwas gesagt hätte, was der Erklärung bedürfe. Er erlebe, wenn er den Mund aufmache, dass er über sich selbst spreche. Ich kann nicht sagen, was ich weiß. Nur, was ich bin.
    Jetzt die tolle Hoffnung, er sei anderen am nächsten, wenn er über sich selbst spreche. Jeder sei sich selbst so nah. Da könnten doch alle, die über sich selbst sprechen, einander nah sein. Dann hat er hörbar aufgeatmet, hat die Zuhörer um Entschuldigung gebeten, weil er keine Beweise hat für das, was er da sagt. Aber genau das liegt ihm nicht, etwas zu beweisen. Wenn etwas bewiesen ist, ist es für ihn erledigt. Das Unbeweisbare, das zieht ihn an.
    Er ist dann so weit gegangen, den Leuten zu sagen, er habe einer Pfarrköchin namens Hedwig, Pfarrköchin in Merklingen, einmal gesagt, dass seine Mutter ihm gesagt habe, zu seiner Zeugung sei kein Mann nötig gewesen. Und Fräulein Hedwig habe nicht gelacht. Auf jeden Fall ihn nicht ausgelacht. Und der Pfarrer Studer habe, als er das von Fräulein Hedwig erfahren hatte, zu ihm gesagt: Auf so einen haben wir gewartet. Mehr wolle er, sagte Percy, hier heute nicht sagen. Aber ein anderes Mal mehr. Das hoffe er. Von sich.
    Und sagte doch noch: Glaubwürdig sein wäre das Höchste für ihn. Glaubhaft sein zu wollen, käme ihm anmaßend vor. Wenn er euch glaubwürdig wäre, wäre er nie mehr allein. Oder, um es mit Goldrand zu sagen: nie mehr einsam.
    Womit ich zugegeben habe, dass ich abhängig bin.
    Und musste noch sagen: Einer, der sich unabhängig wähnte, wäre mir fürchterlich. Einer, der abhängig ist, kann einem leidtun. Ich mir aber nicht. Ich bin nicht abhängig von dem und jenem, sondern absolut. Ich bin absolut abhängig. Absolut unselbständig. Ich bin ein Echo und weiß nicht, von was. Noch nicht. Ich habe im Lauf meines Lebens immer mehr Gleichartigkeiten mit anderen erfahren. Und je mehr ich davon
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher