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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn
Autoren: Martin Walser
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was er arbeiten kann und will. Handwerk, Landwirtschaft, Industrie, und nichts davon im Neubauteil. Alles in den alten Klosterbauten, die hundertfünfzig Jahre lang dem Verfall gewidmet waren. Die alten Stallungen voll brauchbar. Auch die für die Rösser. Meine Rösser. Auch sie warten auf deinen Besuch.
    Er habe, sagte Percy, nirgends innigere Pferde gesehen als Augustins Mongolenpferde. Und seit Jahren trau’ er sich nicht zu fragen, warum Augustins Pferde Rösser seien.
    Und der Professor: Vergiss nicht, ich bin aus Letzlingen. Wir haben auf dem Hof, bevor der Traktor gekommen ist, vier Rösser gehabt. Aber schon in der Letzlinger Schule war Ross nur in der Einzahl erlaubt. In der Mehrzahl nur noch Rosse oder gleich Pferde. Rösser wurde in jedem Aufsatz als Fehler gezählt. Jetzt hat Hochdeutsch auch südlich der Donau übernommen. Wenn ich sterbe, gibt es nur noch Pferde. Aber meine Mongolen-Rösser sind weder Rosse noch Pferde, Percy. Das sind Rösser. Es sind jetzt schon neun. In der Angestelltensprache würde ich sagen: Ich verbringe jede freie Minute bei ihnen. Inzwischen seien seine Rösser aber auch Lieblinge vieler Patienten. Wie die mit den Rössern umgehen, reiten ohne Sattel, und wie die Rösser zu den Patienten sind, dafür sei das Wort Therapie ein Unwort. Den Patienten so zuwider wie ihm. Heilung, Percy. Ich muss mit dir zum Teich auf der Südseite, du weißt, wo die Seerosen tun, hast du gesagt, als wüssten sie nicht, wie schön sie sind. Dort zeig’ ich dir unser erstes Weizenfeld. Die Patienten säen, ernten, mahlen, backen, dann essen sie ihr eigenes Brot. Das, Percy, ist mein Beitrag zur stationären Psychiatrie. Ich hoffe, du magst unser Brot. Gebacken in der historischen Ofenküche. Allerdings computergesteuert. Inzwischen ein Exportartikel. Wir können gar nicht so viel backen, wie wir verkaufen könnten.
    Und Innozenz?, sagte Percy.
    Der residiert jetzt, sagte der Professor, an höchster Stelle. Über dem Alten Tor, im Dreiecksgiebel. Extra ausgebaut für ihn. Von Freiwilligen. Da droben hat er zehnmal so viel Platz wie in der historischen Ofenküche. Er hat allerdings verlangt, dass sein hohes Quartier weiterhin Ofenküche heißen müsse. Seine Scherblinger Anthologie soll einmal den Titel
Ofenküche
haben. Er hält diesen Namen für attraktiv. Du musst ihn besuchen, er ist ganz hell zur Zeit. Schon länger hell als je zuvor. Dr. Bruderhofer und ich streiten wie immer, wer sich darauf etwas einbilden darf, er mit seiner ausgetüftelten Medikation oder ich mit meinen Versuchen, den Leidenden dadurch zu helfen, dass ich sie etwas tun lasse, was sie gern tun. Das habe ich von den Jesuiten gelernt: Sie sollen sein, wie sie sind, oder …
    Er lud Percy ein, fortzufahren, der tat’s: Aut sint, ut sunt, aut non sint.
    Percy, sagte der Professor, in dir geht nichts verloren.
    Und Percy: Sie sollen sein, wie sie sind, oder sie sollen nicht sein.
    Der Professor: Wenn ich hier Abt wäre, würde ich dich küssen. Wir haben Glück, Percy. Dr. Bruderhofer kann uns nicht dreinpfuschen. Er segelt zur Zeit an der türkischen Küste auf und ab.
    Verheiratet mit Eva Maria von Wigolfing. Der Professor hörte auf, schwieg, wie es zwischen ihnen üblich war.
    Dann sagte er: Sei froh, dass er jetzt an der türkischen Küste herumsegelt, sonst müsstest du ihm über jeden deiner Besuche bei Ewald berichten. Forensisch. Du verstehst. Er tut, als sei er, nur er, der Staatsanwaltschaft gegenüber verantwortlich. Ein Besuch bei Frau Dr. Breit ist übrigens fällig. Möglichst bald. Sie war dabei, als du gesprochen hast vor zwei Jahren, saß neben mir und war sehr bewegt von deiner Rede. Sie hat mir nur ein Wort zugeflüstert: Zauberhaft. Mehr traute sie sich nicht zu sagen. Andrea Breit … verzeih, dass ich das auch noch sage, sie liebt mich vielleicht. Vielleicht nur, weil sie, Dr. Bruderhofer direkt unterstellt, von ihm so viel gegen mich anhören muss, dass sich in ihr ein Gefühl gebildet hat für mich. Sie macht immer wieder Andeutungen, auf die ich nicht reagiere. Es könnte ein von Dr. Bruderhofer ausgeworfener Köder sein. Wenn sie abends allein drüben in Scherblingen in ihrer Wohnung sitzt, muss sie, nach allem, was der Tag gebracht hat, mehr an Dr. Bruderhofer denken als an mich. Dr. Bruderhofer ist eins neunundachtzig. Vielleicht eins neunzig. Ich eins vierundsiebzig. Ich lass dich durch Luzia bei ihr anmelden. Ewald Kainz benimmt sich bei ihr genau so wie bei mir. Aber die Mittel nimmt er.
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