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Mutproben

Mutproben

Titel: Mutproben
Autoren: Ole von Beust
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hätte, aus dem Stand 20 bis 25 Prozent der Wählerstimmen zu gewinnen. In dem Moment, in dem sich die Finanzkrise in Deutschland unmittelbar auswirkt, wenn etwa die Industrie nicht mehr so stark exportieren kann wie zuvor, wenn aufgrund der Staatsverschuldung die Inflation steigt und die ersten Lebensversicherungen nicht mehr ausgezahlt werden können, weil das Garantieversprechen platzt, in dem Moment, in dem die erste Bank pleite geht und die Menschen wirklich um ihre Spareinlage fürchten müssen, in diesem Moment wird ein Rechtspopulist hier auf enormen Zuspruch stoßen. Und die Reaktion darauf wird nicht sein, dass die anderen Parteien dagegenhalten, sondern dass sie ihrerseits nun noch eurokritischere Töne anstimmen, um die Wähler abzufischen. Ganz so, wie man es bei der Sarrazin-Debatte und dem Thema der Integration beobachten konnte. Ich bin kein Zweckpessimist, doch ich sehe
diese Gefahr aktuell sehr deutlich. Und wenn wir an diesen Punkt kommen, dann explodiert die Lage. Die Chancen stehen fifty-fifty, dass es gut geht oder eben nicht. »Europa« steht auf Messers Schneide. In den nächsten fünf Jahren wird sich entscheiden, ob dieses Projekt eine Zukunft hat.

Mut und Proben IV – Oder die Probleme der Konservativen
    Als ich in die CDU eintrat, war ich gerade sechzehn Jahre alt, und ich werde wohl bis zum Ende meines Lebens politisch Mitglied der Christdemokraten bleiben. Ich habe dieser Partei alles zu verdanken. Ich war Oppositionsführer der Hamburger CDU, Erster Bürgermeister und Ministerpräsident über beinahe zehn Jahre. Und ich konnte mir als Mitglied des Bundesvorstandes ein umfassendes Bild von einer großen Volkspartei machen. Ich habe mein gesamtes Leben lang nur diese eine Partei gewählt: die Christlich Demokratische Union.
    Ich bin ein Kind der Sechziger- und Siebzigerjahre. Damals gab es Grabenkämpfe zwischen den Linken und den Rechten, zwischen Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten. Die Konturen waren klar gezeichnet, und als Mitglied einer Partei wusste man, wo man steht. Es war die Zeit von Rainer Barzel und Helmut Kohl, von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Als ich mit meiner Parteiarbeit in der Hamburger CDU begann, ruhte sich die CDU gerade noch auf den Erfolgen von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard aus. Doch wir Jungen waren heiß und stürzten uns mit allem Enthusiasmus auf Programmarbeit.
    Es war eine Zeit, in der man Meinungen und Haltungen auf die Probe stellen konnte. Auch in der CDU. Auf dem Parteitag in Hamburg damals wurde um Positionen gerungen wie etwa die paritätische Mitbestimmung, die Vermögensbildung für Arbeitnehmer, die Reform der Berufsbildung, es wurde gestritten und debattiert. Obwohl es schon damals nicht so recht
zur CDU passte, hatten wir in Hamburg einen offen geführten Austausch von Meinungen. Das ist nicht selbstverständlich für eine Partei, die sich eigentlich durch eine starke Führungstreue auszeichnet, heute mehr denn je – solange man erfolgreich ist, sind die Mitglieder extrem loyal, sobald der Erfolg nachlässt, wird man schnell wieder fallengelassen. Das ist so, und daran ist nichts Verwerfliches. Die Sechziger jedoch waren für uns Jung-CDUler eine Zeit der Inhalte, in der gruppendynamische Prozesse liefen, in der man sich stritt, dann aber wieder zu Lösungen fand, indem man gemeinsame Positionen erarbeitete. Mehr noch als für die Wähler selbst waren diese Prozesse für uns als Partei wichtig. Etwas erarbeitet zu haben, das schweißte zusammen. Erst recht in den Jahren der Oppositionszeit nach 1969.

    Doch die Zeiten haben sich geändert. Es wird wenig um gemeinsame Positionen gerungen. Generell gehen in unserer Gesellschaft nur noch wenige Impulse von Parteien aus. Parteien sind heute austauschbarer geworden, weil die Welt eine andere ist. Der Wirkungsgrad von Parteien hat sich verändert. Früher dachte man national. Es galt vielleicht, Europa, sofern möglich, mit einzubinden in die Politik. Im äußersten Fall bedachte man transatlantische Beziehungen. China gehörte aber gewiss nicht dazu. Asien war viel zu weit weg – wie heißt es so schön: Was interessiert es mich, ob und wann in China ein Sack Reis umfällt? Heute muss uns das interessieren.
    Um heute Politik betreiben zu können, muss man mühsame Kompromisse schließen mit anderen Parteien, was man
gerade erst wieder beobachten konnte an den Beschlüssen im Bundestag zum EU-Rettungspaket. Das reicht aber nicht mehr: Man muss als Regierung seine nationalen
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