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Mut Proben

Mut Proben

Titel: Mut Proben
Autoren: Carsten Jasner
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reißt ein paar Witzchen, es gibt sogar Kaffee. Die Radiologin schickt vom Computer die Röntgenbilder auf zwei fenstergroße Bildschirme: Sie zeigen Routinefälle wie Brüche in Sprunggelenk, Ellbogen oder Unterschenkel; zwei lädierte Fingerspitzen sorgen für Schmunzeln und Kichern – der Patient behauptet, er sei beim Fußballspiel gegen eine Wand geprallt, die Ärzte tippen auf Schlägerei. Anspruchsvollere Fälle wie ein kaputtes Hüftgelenk und eine Lendenwirbelfraktur sind auch dabei – die Bearbeitung im OP steht noch an. Aufsehen aber erregt vor allem das zertrümmerte Becken. Es hat Komplikationen gegeben während der Operation, erzählt der leitende Arzt, Gefäße litten, Blut floss, wo es nicht fließen soll, doch schließlich hatte das Team alles im Griff. Sie betrachten die Bilder mit Kennerblick und sichtlichem Stolz. Für ein paar Sekunden herrscht im Knochenkino der Unfallklinik andächtiges Schweigen.
    Chirurgen sind ein verkanntes Völkchen. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass Leute, die eine besonders hohe Verantwortung tragen wie diese Ärzte, die beidhändig in einem lebenden Organismus wühlen, eher vorsichtiger Natur sind und im Zweifelsfall auf Nummer sicher gehen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie lieben das Risiko.
    Chirurgen sind die einzigen Menschen, die einem Körper grobe Verletzungen zufügen dürfen, in der Hoffnung, sie könnten dadurch andere Probleme beheben. Diese Lizenz nutzen sie weidlich aus. Das Gefühl, einen Menschen aufzuschneiden, beschreiben manche Chirurgen als »erregend« 35 , was danach kommt als »ziemlich brachial«. Vorhersehbar ist dabei wenig, jeder Patient ist anders, unverhofft kommt oft. Sie sind nicht die Ärzte, die in fisseliger Detektivarbeit und langen Patientengesprächen nach der Ursache eines Gebrechens fahnden. Sie bearbeiten, was auf den Tisch kommt. Fällen rasche Entscheidungen. Wenn es die falsche ist, wacht ein Patient verstümmelt auf oder gar nicht mehr. Die Belastung ist hoch, offiziell dürfen sie nicht mehr als achtundsechzig Stunden in der Woche arbeiten, vor ein paar Jahren waren neunzig die Regel. Das macht ihnen Spaß. Wenn Internisten oder Hals-Nasen-Ohren-Ärzte über Stress klagen, sägen die Kollegen aus der Orthopädie gern noch ein Bein ab. Sie gelten als ehrgeizig, selbstherrlich, abgebrüht, oberflächlich und divenhaft. Diese Gerüchte kursieren nicht in der Öffentlichkeit, sondern unter jenen, die sie kennen: dem Krankenhauspersonal.
    Falls Sie, lieber Leser, aus hoffentlich nicht allzu unerfreulichen Gründen einmal in der Cafeteria eines Krankenhauses sitzen sollten, und in der Nähe schlürfen ein paar Leute in weißen Kitteln Kaffee. Wollen Sie wissen, woran man die Chirurgen erkennt? »Das sind die«, hat mal eine Assistenzärztin erklärt, »die während eines Gesprächs einen Arm lässig über die Rückenlehne ihres Stuhls hängen lassen.«
    »Wahrscheinlich ist es ganz gut so, dass die Leute uns nicht im Operationssaal erleben«, sagt Tim Grosshard.
    Die Bedeutung dieser Worte soll mir erst später klar werden, im OP . Wo Grosshard Dinge tut, die alles, was ich erwartet habe, übertreffen und sich rechtlich manchmal in einer Grauzone abspielen. Damit er wegen dieses Buchs keine Schwierigkeiten bekommt, habe ich mich entschlossen, seinen Namen und den des Krankenhauses zu ändern. Tim Grosshard, der eigentlich anderes heißt, hätte selbst allerdings keine Bedenken gehabt, mit echtem Namen zu erschienen.
    Außer dem vierundvierzigjährigen Oberarzt werden wir in diesem Kapitel noch anderen Menschen begegnen, von denen die wenigsten vermuten, sie seien besonders wagemutig. Sie rücken damit nicht so schnell heraus, denn gerade ein Arzt gilt schnell als leichtsinnig, wenn er zugibt, dass er den Nervenkitzel liebt. Aber wenn man sie fragt, stoßen sie bereitwillig die Tür auf, und es öffnet sich eine Welt des Muts und der Wagnisse, die Staunen macht.
    Ich hätte auch einen dieser typisch harten Survival-Profis auf seiner Wanderung zum Südpol begleiten können, aber erstens hätte das etwas länger gedauert und zweitens hätte ich das wahrscheinlich nicht überlebt. Zudem weiß jeder, dass diese Leute Risiken eingehen. Finden auch alle irgendwie okay.
    Mich interessiert das unbekannte Risiko im Alltag, denn da ist es verpönt. Wanderungen von Menschen zu ihrem ganz persönlichen Südpol, die kaum einer wahrnimmt. Aber sie sind spektakulär. Zwei Begegnungen wurden für mich selbst zum Abenteuer. Ich begann zu
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