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Mut Proben

Mut Proben

Titel: Mut Proben
Autoren: Carsten Jasner
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verstehen, warum sie tun, was sie tun. Und warum sie darin so gut sind. Wir werden mit Herrn Grosshard operieren, Jazzmusikern zuhören, eine Soldatin kennenlernen und mit einer Blinden rennen.

    Der Mann mit dem Kreuz
    Tim Grosshard besucht Privatpatienten. Sie sind längst über den Berg, aber haben Anrecht auf einen Oberarzt. Er bleibt am Fußende der Betten stehen, hört mit wachen, rehbraunen Augen zu, die gebogene Nase in die Höhe gereckt. Er macht das gut. Nimmt sich Zeit, neigt anteilnehmend den Kopf, spitzt die Lippen, als müsste er nachdenken, erklärt, muntert auf. Aber deswegen ist er nicht hier. Dies ist nicht sein Element, Grosshard ist kein Plauderer, kein Seelentröster. Die Visiten waren nicht der Grund für seine Berufswahl. »Spaß«, sagt er, »macht das Operieren.«
    Chirurgie ist Handwerk. Wenn Grosshard nicht im Krankenhaus gelandet wäre, sagt er, wäre er wahrscheinlich »Tischler geworden oder auf den Bau gegangen«. Die Oberarme dafür hat er, bis ins zweiundzwanzigste Lebensjahr war er Leistungsschwimmer. Heute surft er oder fährt Ski. Er zückt sein mobiles Telefon: »Was haben wir heute?« Mit einem Kollegen bespricht er den vorläufigen Tagesplan: ein Oberarm, zwei Oberschenkel. Nichts Aufregendes. Ein bisschen mehr Spannung wäre nicht schlecht. Er wendet sich an mich: »Wollen Sie mir assistieren?« Ich lächele gequält.
    »Wir sind ein bisschen forscher als andere Ärzte«, sagt Grosshard. »Chirurgen sind besonders ehrgeizig und mögen Herausforderungen.« Seine bisher größte war eine junge Frau, die sich mit einem Sprung aus dem sechsten Stock umbringen wollte. Aber sie hatte Familie und Kinder, und in so einem Fall, sagen die Operateure, seien sie nicht mehr zu halten, »da geben wir alles«. Magen, Darm, Milz, Lunge waren kaputt, und jede Menge Knochen. »Wir hatten sie gerettet, sie war stabil«, sagt Grosshard. Leider nur für einen Tag.
    Wer sich vorstellt, Chirurgen erledigten ihre Arbeit sachlich und mit kühlem Kopf, irrt. Da ist Leidenschaft. Weniger Mitleid mit den Kranken als Lust auf den persönlichen Kick. Der Psychologe Michael Apter hat Beispiele gesammelt, in denen Ärzte vom Adrenalin erzählen, das ihnen im OP -Saal durch die Blutbahnen schießt. 36 Chirurgie, sagt einer, »ist wie eine Droge. Sie versetzt Ihnen den gleichen Kick, den gleichen Adrenalinstoß wie das Drachenfliegen. Je riskanter die Operation, desto mehr Spaß macht sie«. Ein Kollege erzählt, dass er sich nach einer dreizehnstündigen Operation eines Patienten mit bösartigen Knochentumoren »in Höchstform« gefühlt habe, bereit, »eine Runde Squash zu spielen oder eine tolle Party zu besuchen«.
    Tim Grosshard hatte besondere »Freudenmomente«, als er vor gar nicht langer Zeit zum ersten Mal eine Wirbelsäule ganz alleine verschraubte, ohne wie sonst den Chef hinzuzuholen. »Ich fühlte mich wie beim Windsurfen, wenn das Brett immer schneller wird. Irgendwann hebt es ab; es schwimmt nicht mehr im Wasser, es schwebt darüber, nur noch die Finne hängt drin. Wie schwerelos.«
    Der Mann, um den es jetzt geht, sitzt zurückgelehnt auf dem hochgeklappten OP -Tisch, der Kopf wird von zwei Stützen gehalten. Er hat ein schmales Gesicht und einen struppigen Vollbart, die Augen sind mit Heftpflaster zugeklebt, damit sie nicht austrocknen, der Mund steht offen. Vor zehn Minuten hat er das Bewusstsein verloren. Die Schwestern packen den nackten Körper mit grünen Tüchern ein, am Ende guckt nur der rechte Arm heraus. Jemand hat ein Kreuz darauftätowiert, ziemlich laienhaft. Drei Strahlen gehen davon ab.
    Es ist nicht leicht, mit einer zartgrünen Einwegmütze im Format einer Duschhaube gut auszusehen. Grosshard schafft es, vielleicht weil er ein paar Sekunden vor dem Spiegel verbringt, bevor er in den Saal stürmt. Ich habe mal gehört, dass manche Chirurgen, bevor sie zur Tat schreiten, ein Ritual pflegen: innehalten, eine Konzentrationsübung, ein meditativer Moment, vielleicht eine Yogafigur. »Mache ich nicht«, sagt Grosshard. Er geht mit offenem Kittel auf eine der vermummten Schwestern zu, sie ergreift das Gürtelbändchen, er dreht sich mit einer eleganten Pirouette hinein, sie bindet zu und stülpt ihm Handschuhe über. Dann wendet er sich dem Mann mit dem Kreuz zu, setzt das Skalpell knapp unterhalb seiner Schulter an und zieht es circa zwölf Zentimeter weit nach unten. Das ist der entscheidende Moment. Für mich jedenfalls.
    »Können Sie Blut sehen?«, hatten mich die OP -Schwestern
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