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Muster - Steffen-Buch

Muster - Steffen-Buch

Titel: Muster - Steffen-Buch
Autoren: Raidy
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weiter untersucht, hält sie an der alten Narbe auf meinem Bauch inne. »Und das«, sagt sie, »ist die Stelle, an der sie dir mit einem Messer in den Bauch gestochen hat?«
    »Ja, Ma'am«, antworte ich. »O nein!«, denke ich. »Jetzt hab ich wieder was falsch gemacht... schon wieder.« Die Krankenschwester muss die Sorge in meinen Augen gesehen haben. Sie legt das Klemmbrett weg und nimmt mich in die Arme. »Gott«, denke ich, »sie ist so warm.« Ich möchte, dass sie mich nie mehr loslässt. Ich möchte für immer von ihr gehalten werden. Ich kneife die Augen zu, und für einige Augenblicke existiert nichts anderes. Sie tätschelt mir den Kopf. Ich zucke zusammen. Die dicke Beule, die ich mir heute Morgen geholt habe, schmerzt. Die Krankenschwester lässt mich schließlich los und verlässt das Zimmer. Ich schlüpfe rasch wieder in meine Kleider. Sie weiß es nicht, aber ich tue alles so schnell wie möglich.
    Die Krankenschwester kommt nach ein paar Minuten mit Mr. Hansen, dem Direktor, und zwei Lehrern von mir, Miss Woods und Mr.
    Ziegler, zurück. Mr. Hansen kennt mich sehr gut. Ich war öfter in seinem Büro als jedes andere Kind in der Schule. Er sieht auf das Blatt, während die Krankenschwester über den Befund Bericht erstattet. Er 9

    fasst mich unters Kinn. Ich habe Angst davor, ihm in die Augen zu schauen. Blicken auszuweichen, ist mir durch meine Versuche, mit meiner Mutter klarzukommen, fast schon zur zweiten Natur geworden.
    Doch es hat auch damit zu tun, dass ich ihm nichts erzählen will. Vor etwa einem Jahr hat er Mutter einmal angerufen, um sie zu meinen blauen Flecken zu befragen. Zu jener Zeit hatte er keine Ahnung, was wirklich los war. Er wusste nur, dass ich ein verstörtes Kind war, das Essen stahl. Als ich am nächsten Tag zur Schule kam, sah er, was sein Anruf zur Folge gehabt hatte. Er rief Mutter nie wieder an.
    Mr. Hansen wettert, dass er jetzt die Nase voll habe. Mir läuft es kalt über den Rücken. Alle Alarmsirenen gehen los: »Er ruft bestimmt wieder Mutter an!« Ich breche zusammen und fange an zu weinen.
    Zitternd wie Espenlaub und wimmernd wie ein Kleinkind flehe ich ihn an, meine Mutter nicht anzurufen. »Bitte!«, winsele ich, »nicht heute!
    Verstehen Sie denn nicht? Es ist Freitag.«
    Mr. Hansen verspricht mir, dass er Mutter nichts sagen wird und schickt mich in meine Klasse. Weil der Unterricht schon angefangen hat, sprinte ich zu dem Klassenzimmer, in dem wir Englisch bei Mrs.
    Woodworth haben. Wir schreiben heute eine Klassenarbeit über die Schreibweise aller Bundesstaaten und ihrer Hauptstädte. Ich bin nicht vorbereitet. Ich war eigentlich immer ein sehr guter Schüler, aber in den letzten Monaten habe ich allem in meinem Leben den Rücken gekehrt. Ich habe nicht einmal mehr den Versuch gemacht, mich in die Welt der Bücher zurückzuziehen, um meinem Leid zu entkommen.
    Als ich das Zimmer betrete, halten sich die anderen Schüler demon-strativ die Nase zu und tuscheln. Die Vertretungslehrerin, eine jüngere Frau, fächert sich frische Luft zu. Sie ist nicht an meinen Körpergeruch gewöhnt. Sie überreicht mir mit spitzen Fingern die Aufgaben für die Klassenarbeit, aber ehe ich mich ganz hinten neben einem offenen Fenster hinsetzen kann, werde ich wieder zum Direktor zitiert. Die ganze fünfte Klasse heult auf - die geballte Ablehnung meiner Klassenkameraden schlägt mir entgegen.
    Schnell wie der Blitz spurte ich zum Sekretariat zurück. Meine Kehle ist wund und brennt immer noch von dem »Spiel«, das Mutter gestern mit mir gespielt hat. Die Sekretärin führt mich ins Lehrerzimmer. Als sie die Tür öffnet, traue ich meinen Augen kaum. Vor mir sitzen mein Klassenlehrer, Mr. Ziegler, meine Mathematiklehrerin Miss Woods, die Schulkrankenschwester, Mr. Hansen und ein Polizist. Ich 10

    erstarre zur Salzsäule. Ich weiß nicht, ob ich wegrennen oder darauf hoffen soll, dass sich der Boden unter mir auftut. Mr. Hansen winkt mich herein, und die Sekretärin schließt die Tür hinter mir. Ich setze mich an das Tischende und erkläre, dass ich nichts gestohlen habe...
    Über die deprimierten Gesichter huscht der Hauch eines Lächelns. Ich habe keine Ahnung, dass sie vorhaben, ihre Jobs zu riskieren, um mich zu retten.
    Der Polizist erklärt, warum Mr. Hansen ihn angerufen hat. Am liebsten würde ich mich in den hintersten Winkel des Zimmers verkrie-chen. Der Polizist fordert mich auf, ihm von Mutter zu erzählen. Ich schüttele den Kopf. Zu viele Leute kennen mein
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