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Museumsschiff (Gaugamela Trilogie) (German Edition)

Museumsschiff (Gaugamela Trilogie) (German Edition)

Titel: Museumsschiff (Gaugamela Trilogie) (German Edition)
Autoren: Matthias Falke
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für ein paar einzelne Krümel nur. Aber ein paar Schluck Wasser, die wir jeden Tag aus dem Zapfen der Aufbereitungsanlage schlürften, waren das einzige, was wir noch zu uns nahmen. Und die Tage gingen dahin. Ich wurde schwach. Bald konnte ich mich kaum noch erheben. Wir reduzierten die künstliche Schwerkraft an Bord des Shuttles und setzten sie auf 0.4 g herab, um unseren Kreislauf zu schonen und den Grundumsatz unserer warmblütigen Organismen zu verringern. Immer öfter fiel ich in ohnmachtartige Zustände von Bewusstlosigkeit. Es war nur noch eine Frage von Tagen, bis ich sanft in ein Koma hinübergleiten würde, aus dem es kein Erwachen mehr gab. Ohne Jennifers Disziplin hätte ich es nicht geschafft. Sie brachte mir nicht nur Konzentrationsübungen und Meditationstechniken bei, sondern lehrte mich auch, meine Gedanken zu kontrollieren. In langen Gesprächen ließ sie mich die allgegenwärtigen Hungerphantasien vergessen. Wir malten uns nicht aus, welche Mahlzeiten unsere liebsten waren und was wir als erstes zu uns nehmen würden, wenn wir jemals wieder bewohnte Zonen erreichten, sondern wir setzten uns über alles Elend, über alles Körperliche, über die gesamte Realität und Gegenwart hinweg. In halblautem Flüsterton riefen wir gemeinsame Erinnerungen wach. Wir schwelgten in der entrückten Szenerie des Weißt du noch? Unsere gemeinsamen Abenteuer, Jahrzehnte der interstellaren Exploration mit der MARQUIS DE LAPLACE und an Bord unserer treuen ENTHYMESIS, die Zeit auf der Akademie, als unsere Beziehung, aber auch die Freundschaft zu Dr. Rogers ihren Anfang nahm, die Jugendjahre und schließlich die Kindheit. Alles kehrte wieder, alles ließen wir vor uns erstehen. Der Geist regiert den Körper, und solange das Bewusstsein sich nicht aufgibt, kann der Magen keine Macht erlangen. Er ist gar nicht existent. Wir lehnten uns gegen die Verzweiflung auf und ließen uns, obwohl zu Skeletten abgemagert, nicht der Selbstaufgabe anheimfallen.
    Denken und Traum, Bewusstsein und Vision, Entrückung und Realität, Dasein und Transzendenz – längst war alles ununterscheidbar ineinandergeflossen. Wie in einem Drogenrausch, einem Wachkoma, einer mystischen Erfahrung oder einer künstlerischen Ekstase erlebten wir diese Expedition ins Unvermessene als Trip, der, allen Lichtjahrfernen und Milliarden Parsec zum Trotz, zuletzt und vor allem eine Reise in die Ab- und Untergründe unserer Psyche war. Wie bei jeder Reise über die Grenzen des Bekannten, Vertrauten und Bestehenden hinaus, war es eine Erfahrung der inneren Entgrenzung. Wir entdeckten neue Galaxien – vor allem entdeckten wir aber auch einige neue Seiten an uns selbst. Jennifers Art, aus der Wachtrance mit mir zu sprechen, eine Regung ihrer Mundwinkel, eine ganz bestimmte Nuance der Berührung, wenn sie mir mit der Fingerkuppe zärtlich über die Lippen fuhr. Und alle Reiche, die die Conquistadoren jemals in Besitz genommen hatten, alle Kontinente, die den klassischen Entdeckern und Eroberern in die Hände gefallen waren, wurden zu nichts, sie wurden um ein Unendliches überwogen von der unaussprechlichen Erkenntnis, die ich tief eingeschachtelt in mir fand, dass und wie sehr ich Jennifer liebte, was sie mir bedeutete, was ich ihr verdankte, wie sehr sie ein Teil von mir war, inwiefern wir ein gemeinsames Wesen waren.
    Und wie bei einer Prüfung, wenn Held und Heldin Hand in Hand die Finsternis an ihrer tiefsten Stelle durchschritten haben, schien sich ein Vorhang zu heben; die Finsternis begann, unmerklich und unsagbar langsam, sich vor uns zu lichten. Es war kein ausgedehntes Lichtfeld wie das Große Manifest, das sich vor undenklichen Zeiten einst vor uns aus der Dunkelheit geschält hatte, in unendlichen Abstufungen vom Unsichtbaren sichtbar geworden war; zunächst waren es nur vereinzelte schwache Punkte und Flecken, die sich in die große Schwärze tupften. Aber doch schien, Millionen Lichtjahre voraus, wieder etwas dazusein. Jennifer, die sich mit schlafwandelnder Sicherheit durch das Shuttle bewegte, änderte den Kurs geringfügig und hielt direkt auf die Erscheinung zu, die uns am nächsten zu liegen schien. Stunde für Stunde wurde sie prägnanter, aber es verging nochmals ein ganzer quälender Tag, bis auch nur ein punktförmiges Objekt von der Lichtstärke eines schwachen Sterns daraus geworden war. Immerhin. Wenn wir eines gelernt hatten, dann war es Geduld. Wir konnten warten. Und wenigstens würden nicht in der vollkommenen Dunkelheit sterben. Wir
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