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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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in Jalta, und es gab keine Jessica Kiddon. Bel hatte meine
Idee mit dem dann fehlgeschlagenen Fluchtversuch nach Chile abgekupfert. Was
angesichts der unhöflichen Bemerkungen, die sie damals darüber hatte fallen
lassen, ein ziemlich starkes Stück war.
    Tatsächlich
war ihr Plan, so wie sie ihn mir an jenem Abend auseinander setzte, wesentlich ausgefeilter
als meiner. Das musste er auch sein, sagte sie, denn sie hätte über kein
eigenes Geld verfügt, und die einzige Möglichkeit, ihre Flucht zu finanzieren,
sei die gewesen, diese neue Figur zu erschaffen, das anständige Mädchen, das
Mutter davon überzeugen konnte, die erforderliche Summe herauszurücken. Uns
alle mit der fiktiven Jessica bekannt zu machen (errötend fiel mir unser
Telefonflirt nach dem Windhundrennen ein) verschaffte ihr zudem die Zeit und
die Möglichkeiten, nach der Abreise ihre Spuren zu verwischen. Die Idee war,
unter eigenem Namen unter dem Vorwand der Tschechow-Meisterklasse nach Russland
zu reisen: Was uns betraf, so würde Jessica mit ihr reisen und alles sähe
einwandfrei aus. Erst nach ihrer Ankunft kämen der getürkte Pass und andere
Papiere, die MacGillycuddy beschafft hatte, ins Spiel. So wie sie es geplant
hatte, hätte sie nun sechs Monate lang Zeit (die Dauer der vorgetäuschten
Meisterklasse), um sich in Jessica zu verwandeln - in die Jessica ohne Wurzeln
und familiären Hintergrund, die problemlos verschwindet und die man nie würde
aufspüren können. Und Bel Hythloday würde sich einfach verflüchtigen, ohne das
Durcheinander, den Schmerz oder das logistische Kopfzerbrechen eines fingierten
Todes durch Ertrinken, Explosion oder Autounfall.
    »Aber du hast den
Autounfall inszeniert«, sagte ich verwirrt. »Was hatte es für einen Sinn, einen
derart ausgeklügelten Plan zu ersinnen, all die Vorarbeiten zu erledigen, um
dann in letzter Minute alles über den Haufen zu werfen und sich für den Unfall
zu entscheiden - und uns mit all dem Durcheinander und Schmerz zurückzulassen

    »Und wie
läuft's so mit dem Theater?«, sagte sie leichthin und wechselte unvermittelt
das Thema. »Wie geht's Harry und Mirela; wie steht's mit den Plänen für
Amaurot?«
    Einen
Augenblick lang war ich sprachlos. Das Theater war Geschichte. Die Pläne für
Amaurot, die Umgestaltung, die Statuen, die Vermählung von Kunst und Kommerz,
Harrys und Mirelas Verlobung, all das war zusammen mit dem flaschengrünen
Mercedes zerstört worden. Erst jetzt dämmerte mir, dass hinter all dem eine
Absicht gestanden haben könnte, dass der Unfall als vorsätzlicher Sabotageakt
gedacht war, der Amaurot von seiner Zukunft abtrennen und so sicher ins Dunkel
stürzen würde, als kappte jemand die Stromzufuhr. Oder als Aufschub der Exekution
- je nach Sichtweise. Ich schwieg, damit sich dieser Gedanke langsam setzen und
meine anderen Gedanken sich darauf einstellen konnten. Dann sagte ich: »Geht
allen bestens. Könnte nicht besser sein.«
    Ich stand
auf und ging Richtung Hallentor. »Und, wie ist es so da drüben?«
    »Würde dir
gefallen«, sagte sie. »Alle trinken literweise Wodka.« Sie lachte, und ich
lachte auch. Ich stand jetzt mit dem Handy an der Wange am Tor und ließ den
Blick über den Parkplatz schweifen. In der Filmversion unserer Leben würde das
jetzt so aussehen: Ich entdecke eine Telefonzelle, nur wenige Meter entfernt,
und darin Bel, die in meine Richtung schaut...
    »Kommst du
wieder nach Hause? Nur zur Erinnerung: Zu Hause ist es immer noch am
schönsten.«
    »Vielleicht,
irgendwann«, sagte sie. »Vielleicht kommst ja du irgendwann hierher. Aber ich
muss jetzt los, Charles. Mach dich wieder an deine Arbeit.«
    »Tja ...
danke, dass du angerufen hast.« Ich ging zurück in die Halle, über mir das Plexiglasdach,
um mich herum die stumm dahängenden Kleidungsstücke.
    »War mir
ein Vergnügen.«
    »Gutes
neues Jahr, altes Mädchen.«
    »Gutes
neues Jahr, Charles.«
    Aber
vielleicht ist ja alles ganz anders gewesen. Vielleicht ist das ja nur ein
albernes Hirngespinst meinerseits gewesen. Vielleicht hatten wir ja schon einen
sehr netten Brief erhalten von einer früheren Schulfreundin von Bel, die in
jener Nacht auf sie gewartet und dann bei uns angerufen hatte, aber nicht
durchgekommen war, die dann in Panik selbst ein Taxi gerufen, zum Flughafen gefahren,
allein in das Flugzeug gestiegen und schließlich in einem russischen Ferienort
eingetroffen war, wo die Neuigkeit schon auf sie wartete, wo sie dann noch eine
Woche lang in einem tobenden
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