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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert
Autoren: Uwe Hinrichs
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Schwedischen kennen. Da diese Varianten immer ein kleines Stück voneinander abweichen, überträgt sich dieser Abweichungsfaktor fast automatisch ins Deutsche. Man vergleiche:
    Deutsch: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.
    Englisch: A bird in the hand is worth two in the bush.
    Russisch: Lučše sinica v rukach čem žuravl’ v nebe . ‹Besser einen Spatz in den Händen, als einen Kranich am Himmel.›
    Die Bilder, der Satzbau und die Grammatik sind verschieden, das Gemeinte aber ist dasselbe. Ein dreisprachiger Praktikant, der vielleicht in Moskau Deutsch lehrt, wird in seinem England-Urlaub eventuell zu einem neuen Bekannten sagen: Ein Spatz in der Hand ist besser als zwei im Busch o.ä.
    Gegen einen engeren Zusammenhang mit den Migrantensprachen wie Türkisch spricht, dass es in Sprachen, die einem anderen Kulturkreis entstammen, kaum ähnliche Sprichwörter gibt und Migranten im Gebrauch von deutschen Sprichwörtern und Metaphern ohnehin eher zurückhaltend sind.
    Für einen Zusammenhang mit dem Migrantenfaktor spricht, dass die zweite und dritte Generation ja hier geboren ist und aus deutschen Muttersprachlern besteht, die sich immer stärker auch des deutschen Metaphernschatzes bedienen, weil genau dies ein starkes Anzeichen für fortgeschrittene Integration ist (und viele Metaphern ohnehin europäisches Gemeingut sind). Neue Deutsche mit Migrationshintergrund verfügen außerdem über eine sozusagen eingepflanzte zwei- und mehrsprachige Kompetenz und über ein bilingual geprägtes Sprachbewusstsein: Wenn sie deutsche Sprichwörter gebrauchen, dann werden sie sie mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit abwandeln, weil Migranten weder für die altdeutsche Form noch für altdeutsche Konnotationen stehen können.
    Zumindest kann man soviel sagen, dass die Formen aufgelockert, flexibler, offener, aber auch weniger stabil geworden sind. So wie es im Neudeutschen zehn Varianten zu mit einem niedlichen Eisbären geben mag, werden wohl auch andere Redewendungen und Sprichwörter vielfach umgeschrieben und abgewandelt werden.
26. SPRACHWANDEL: FORMEN- HOPPING UND TRAMPELPFAD
    Im Schaufenster eines kroatischen Restaurants in Berlin las ich im Juli 2012 auf der Speisekarte zwei Gerichte, direkt hintereinander:
    â€“ Portion Pfifferlingen mit Rührei 8,50 Euro.
    â€“ Rumpsteak mit Pfifferlinge 13,50 Euro.
    Eine Mutter aus der Berliner Nachbarschaft (südamerikanischer Herkunft) wollte unsere Kinder abholen und sagte:
    â€“ Ich hole ihm nachher ab und dann können wir mit ihn und Adrian noch ins Freibad gehen.
    Dieser Typ von Vertauschung ist offenbar auf keine Wortart, keine Kategorie beschränkt, vgl.:
    â€“ Dies betrifft dann auch die andere Journalisten.
    â€“ Plötzlich kamen auch noch anderen Journalisten hinzu.
    Wenn heute ein sehr großes Korpus spontan gesprochener deutscher Umgangssprache, gesprochen von Deutschen mit undohne Migrationshintergrund, zur Verfügung stünde, würde man mit Sicherheit zwei ‹Gesetze› herausfiltern können. Das erste Gesetz nenne ich
    No agreement: Neudeutsche Formen werden mit einer gewissen Regelmäßigkeit, ja Vorhersagbarkeit verwendet – so als wollte man die ‹richtige› Form unter allen Umständen umgehen und eine – gewissermaßen ‹drohende› – grammatische Kongruenz möglichst vermeiden. Im zweiten Beispiel oben wird das agreement – Verb abholen mit Akkusativ/Präposition mit mit Dativ – klar und ‹absichtlich› durchbrochen. Genauso der Kasus im ersten Beispiel: Portion Pfifferlingen vs. Steak mit Pfifferlinge . Hier herrscht eine innere Systematik, die weit über ein nur zufälliges Maß hinausgeht. Klar ist auch, dass richtige und falsche Formen den Sprechern im Prinzip irgendwie bekannt sein müssen, aber nicht normativ als ‹richtig› oder ‹falsch› eingeschätzt und eingesetzt werden. Sie werden auf eine neue Art gebraucht; die altdeutschen (korrekten) Formen
    â€“ Portion Pfifferlinge /mit Pfifferlingen ; ich hole ihn ab/wir gehen mit ihm
    werden quasi ausgetrickst. Möglich ist, dass dies eine Art ist, die kodiertechnisch irgendwie ökonomischer ist und damit den inneren Sprachwandel fördert.
    Das zweite, ebenso verblüffende ‹Gesetz› nenne ich
    New forms first: Die neuen Formen des veränderten Deutschen erscheinen in einem
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