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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert
Autoren: Uwe Hinrichs
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regelmäßig auf und haben viele Varianten. Kaum jemals hört man noch die exakte Originalversion.[ 12 ] Wenn man lange genug sucht und registriert, findet man in den neuen Formen so gut wie alles: Die Umstellung mit Sinnverdrehung, neue Halbsätze, Austausch von Wörtern, andere oder keine Endungen, Plural statt Singular, Austausch einzelner Laute u. v. m. Obwohl es keine einschlägigen Studien gibt, ist eines doch ganz sicher: Es sind keine Zufälle, keine Versprecher, keine absichtlichen Verballhornungen (wie etwa bei das schlägt dem Fass den Boden ins Gesicht ) und auch kein ‹Metaphernbeißen› vom Typ Licht am Ende des Horizonts ; dies ist eine Sache des stilistischen Gefühls, der verbalen Ästhetik, und hat mit Veränderungen im Sprachsystem zunächst einmal wenig zu tun.
    Die Wissenschaft behandelt solche Dinge, wenn überhaupt, meist einzelsprachlich nach den Leitlinien der traditionellen Rhetorik, in der die ‹Redefiguren› auf ihre Intentionen und Wirkungen untersucht werden. Unter dem Stichwort Variation oder Abwandlung werden als Motive und Begleitumstände z.B. genannt: unzureichendes Sprachwissen; ästhetische Sprachlust; Imponieren; Aufmerksamkeit erregen. Hinter solchen Urteilen steht unverkennbar das alte Denkmodell von der Normabweichung, ein tief verwurzelter Hang zur Fehleranalyse und ein Fokus auf der Lücke zwischen zwei oder mehreren Ausdrucksweisen.
    Leicht geht da verloren, welche Funktionen diese Abweichungen für einen beschleunigten Sprachwandel, wie er in Deutschland vor sich geht, haben können. Die Belegfälle haben jedenfalls in den letzten zehn bis zwanzig Jahren rasant zugenommen. Ja, es scheint mittlerweile so etwas wie ein unsichtbarer Zwang zu herrschen, an irgendeiner Ecke der Floskel etwas abzuändern, es scheint einen seltsamen, wie magischen Druck zu geben, dem viele Zeitgenossen ohne weiteres nachgeben. Die Abwandlung geht aber nicht über die Rote Linie der völligen Verdunkelung; die Ausgangsform bleibt immer in irgendeiner Form erkennbar und der Faden zum Sprachgut reißt nicht völlig ab. Offenbar wird gar nicht die Metapher selbst zerstört, sondern nur die kulturelle Bedeutung der gesprochenen Formel zurückgefahren. Deshalb kommt es dem Volksmund vielleicht nur darauf an, irgendetwas an der Wortsubstanz zu verändern, um dadurch Sprichwort und Redensart zu ‹neutralisieren› oder neu zu definieren. Können wir einen Zusammenhang mit der aktuellen Sprachsituation in Deutschland herstellen?
Metaphern-Umbau und Sprachsituation
    Auf den ersten Blick reiht sich das Phänomen passgenau ein in den Kreis der vielen anderen Veränderungen, die das Deutsche zur Zeit durchmacht – nur eben jetzt nicht mehr auf der eng grammatischen Ebene, sondern auf der weiten Ebene der ‹Phraseologie›. Sprichwörter, Redensarten und Metaphern gehören zu einer bildlichen, sinnlichen Sprachebene, die so etwas wie den kulturellen Horizont einer Sprachgemeinschaft, einer Kulturgemeinschaft ausmalt und für ihre Mitglieder einen hohen Identifikationswert besitzt. Das gilt offenbar nicht nur für ein Land,eine Einzelsprache, eine Region oder einen Kulturraum: Die Disziplin der Europäischen Phraseologie (‹Europhras›) hat herausgefunden, dass viele Wendungen über ganz Europa verbreitet sind und so etwas ausbilden wie ein internationales Kulturareal, das keinen staatlichen oder nationalen Grenzen folgt. Es erzeugt durch gemeinsame Tradition, Weltanschauung, Gebräuche, Religion, Philosophie und Kultur einen tiefen Zusammenhang, dem alle Sprecher unterliegen (Eismann 2010).
    In Deutschland haben sich in den letzten sechzig Jahren zwei Kulturbrüche mit immensen Auswirkungen ereignet: das Ende des Faschismus und die bis heute fortlaufende Immigration. Beide Transformationen erzeugen eine abrupte Wende in der Überlieferung und erzwingen eine neue Definition kultureller Werte. Dabei scheint ein neues Bewusstsein von den Fallstricken und Paradoxien der ‹Vergangenheitsbewältigung› einherzugehen mit einer neuen, relativen Kultursicht, die das Eigene und das Fremde eher sieht als ein kreatives Tandem mit einer großen Zukunftsfähigkeit. Denkbar ist in einem solchen Rahmen, dass mehrsprachige Sprecher Sprichwörter und Metaphern nicht nur in einer Sprache, dem Deutschen, parat haben, sondern sie auch aus anderen Sprachen, dem Englischen, Russischen, Bosnischen,
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