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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert
Autoren: Uwe Hinrichs
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Welt: Es gibt mehr Sprachen ohne als mit Artikel.
    Eine Faustregel besagt, dass besonders slavische Migranten den Artikel – wenn überhaupt – nach den Regeln ihrer Herkunftssprache auswählen, also nach dem ‹grammatischen Geschlecht› – was durch ‹Interferenzen› bereits vielfach belegt ist. Typisch wären dann die Mut (bosnisch hrabrost fem.), das Himmel (nach russisch nebo neutr.), der Boot (nach serbisch čamac mask.). Wachsende Unsicherheit mag weiter dazu beitragen, den Artikel vorsichtshalber lieber gleich wegzulassen, als ständig einen falschen zu riskieren. Eine zweite Strategie sieht so aus: Weil die Schwankungennicht zu beseitigen sind, greift man zu einer bewährten Notlösung – man wählt (unbewusst) eine einfache und naheliegende Artikelform aus und macht daraus einen Allzweck-Artikel für alle Fälle (einen ‹generischen› Artikel). In der Sprachgeschichte hat sich dieses Phänomen immer wieder ereignet, am deutlichsten im Englischen, das alle Artikelformen auf the reduziert hat. Möglich ist, dass der deutsche Artikel die für ‹Plural› hier eine Signalwirkung ausübt: die Tische, die Decken, die Pferde.
25. NEUE ‹DUNKLE› VEREINFACHUNGEN
    Der moderne Sprachwandel des Deutschen steckt nicht mehr in den Kinderschuhen. Deshalb gibt es inzwischen Veränderungen und neue Züge, die nicht mehr vollkommen unbewusst, sondern bereits einigermaßen bekannt sind. Da der Sprachwandel aber weitergeht, gibt es auch ganz neue Spuren, die dem sprachlichen Bewusstsein (auch dem der Linguisten!) noch fast ganz entzogen sind – das muss wohl auch so sein, denn sonst könnten sie sich im Sprachgebrauch nicht halten. Deshalb ‹dunkle Veränderungen›. Dunkel auch deshalb, weil sie nicht nur unbewusst sind, sondern auf Nachfrage auch durchweg geleugnet und auch meist gleich korrigiert werden: Als Fehler, als winzige Wurmlöcher des Sprechens, weisen sie auf die neuesten Bewegungen des Sprachkörpers hin. Die Fehler von heute sind aber wahrscheinlich die Normen von morgen, und es ist schließlich nur eine Frage der Zeit, wie weit dieses Morgen vom Heute entfernt liegt.
    Die folgenden Züge kämpfen noch heftig mit dem Stigma des Fehlerhaften. Besonders in geschriebener Form sehen sie sehr gewöhnungsbedürftig, ja falsch aus, aber solange wir keine einschlägigen Aufnahmen haben, ist dies die einzige Art, sie zu präsentieren.
Eine neue Steigerung?
    In den flektierenden Sprachen und auch im Deutschen steigert man die Adjektive nach dem traditionellen Typus stärker, größer, lauter. Dies ist der indogermanische Grundtyp, und er ist in vielen Sprachen Europas ziemlich fest verankert. Er heißt ‹synthetisch›, weil alles in einem Wort zusammengefasst ist. Viele Sprachen habenaber daneben einen zweiten Typ entwickelt, der dem ersten Konkurrenz macht. Er geht nach dem Muster MEHR INTERESSANT: englisch more interesting , russisch bolee interesno , polnisch bardziej interesujący . Ja, die mehr westlich und südlich gelegenen Sprachen Europas haben diesen ‹analytischen› Typ sogar fast ausschließlich: französisch plus tard ‹später›, italienisch piu tardi , rumänisch mai tîrziu , griechisch pio argó . Wenn Sprachen beides haben, ist der Typ mit mehr meistens reserviert für mehrsilbige Adjektive oder Fremdwörter: englisch more interesting , russisch bolee udovletvorjajuščee ‹befriedigender›, serbisch viÅ¡e fer ‹fairer›.
    Auch im Deutschen stellt sich seit einiger Zeit aus dem Hintergrund eine leise Konkurrenz zur alten Steigerung ein, und das ist historisch etwas Neues: Es ist der Typ mehr geeignet ; mehr zuständig ; mehr aufgeregt . Die meisten deutschen Muttersprachler, Lehrer und Sprachpfleger werden auf Anfrage abstreiten, dass es die MEHR-Steigerung im Deutschen überhaupt gibt. Solche Urteile gehen aber bloß auf einen Blinden Fleck zurück, der unweigerlich von der Macht des Standard-Deutschen erzeugt wird. Besonders Entertainern, Talkshowmastern, aber auch Jugendlichen und gelegentlich dem Normalbürger unterlaufen ständig Steigerungsformen mit mehr , die nicht mehr ad hoc zurückgenommen oder korrigiert werden. Drei typische Beispiele:
    â€“ Man ist hier in Athen ja doch mehr aufgeregt als bei den Deutschen Meisterschaften.
    â€“ Die Mannheimer Studenten reagieren hier vielleicht
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