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Muetter ohne Liebe

Muetter ohne Liebe

Titel: Muetter ohne Liebe
Autoren: Gaby Gschwend
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Alterssicherung der Eltern. In wohlhabenderen Schichten der Bevölkerung war es üblich, die Kinder schon früh in Instituten, Pensionaten und Internaten unterzubringen.
    Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind hatte nichts Sentimentales. Die meisten Kinder wuchsen auch gar nicht zu Hause auf. Im 18. Jahrhundert war die Unterbringung von Kindern bei einer Amme oder Pflegefamilie in allen Schichten der städtischen Bevölkerung verbreitet. Pariser Polizeiberichte aus dem Jahr 1780 belegen, dass von etwa 21 000 Kindern nach der Geburt nur 2000 im Haus der Eltern bleiben durften. Die anderen wurden zu Ammen verfrachtet, oft auf dem Land und so weit weg von Paris, dass sie bereits auf dem beschwerlichen Transport starben. Die meisten dieser Kinder erlebten das erste Lebensjahr nicht. Für die reiche und gebildete Bevölkerung galten Kinder als mindere, willens- und geistesschwache Erwachsene. Es wurde empfohlen, ihnen gegenüber kühle Reserviertheit und weder Zärtlichkeit noch Nachsicht zu zeigen, um ihre «natürliche Sündhaftigkeit und Bosheit» nicht zu unterstützen. Gewalt gegen Kinder war in allen Schichten der Bevölkerung alltäglich. Eine Analyse autobiografischer Aufzeichnungen von Frauen und Männern in Deutschland, die zwischen 1740 und 1820 geboren wurden, ergab im Rahmen einer Forschungsarbeit, dass es fast keinen untersuchten Text gab, in dem nicht über Gewalt gegen Kinder berichtet wurde, und fast keine Autoren, die nicht ausdrücklich sagten oder andeuteten, als Kind geschlagen worden zu sein (Deegener/Körner 2005, S. 14). Ein Gefühl für die Eigenart oder gar den Wert der Kindheit existierte in dieser Zeit nicht.
    Für ein gesondertes Arbeitsfeld «Kindererziehung» bestand weder eine Notwendigkeit noch die Möglichkeit dazu. Die Erziehung von Kindern fand im Zusammenleben und Zusammenarbeiten vieler Personen statt, denn auch die Familie, wie wir sie heute als «normal» ansehen, gab es zu dieser Zeit noch nicht. Weder arbeitete der Vater getrennt von der Familie außer Haus, noch blieb die Mutter mit den Kindern allein darin zurück. Die Menschen lebten in Hausgemeinschaften, die meist zugleich auch Produktionsgemeinschaften waren. Die Bauernfamilie umfasste Eltern, Kinder, Großeltern, unverheiratete Verwandte und das Gesinde. Die Handwerkerfamilie bestand aus Eltern, Kindern, Lehrlingen und Gesellen und auch die aristokratische Hausgemeinschaft bestand neben Eltern und Kindern aus der Dienerschaft, Verwandten und Freunden. Mütter und Kinder lebten also in einer Gemeinschaft von vielen Menschen. Mutterschaft und Haushalt als privates Refugium waren nicht das zentrale Lebensumfeld von Frauen, ebenso wenig waren Mutter und Kind auf eine isolierte Beziehung festgelegt. Frauen waren vollwertige Produktivkräfte in der Wirtschaft oder verfolgten als Adlige musische oder gesellschaftliche Interessen. Die Verantwortung der Mutter für das Kind war spätestens mit dem Ende der Stillzeit beendet, wenn denn überhaupt gestillt wurde. Das Stillen war bei Frauen aller Bevölkerungsschichten unbeliebt und insbesondere in ärmeren Schichten und Gebieten völlig unverbreitet, auch wenn es eine viel größere Überlebenschance für die Kinder bedeutet hätte. Spätestens also nach der Stillphase übernahmen die Geschwister, die Alten, das Gesinde, die Dienstboten, die Ammen Aufsicht und Erziehung des Kindes.
    In dieser Epoche finden sich noch viele andere Anzeichen für ein grundsätzliches Desinteresse am Kind und für die Vernachlässigung von Kindern: Eine nicht unübliche und sozial akzeptierte Praxis der Geburten kontrolle war die Kindstötung, denn zu viele Kinder bedrohten die Überlebenschancen der Großfamilie. Im 19. Jahrhundert wurde es dann gesetzlich verboten, Kleinkinder mit ins elterliche Bett zu nehmen, weil sie dort offensichtlich häufig erstickt wurden. Unerwünschte Kinder wurden auch oft ausgesetzt, verstoßen, fortgegeben oder in fremde Dienste verkauft. Natürlich sind Verzweiflung und wirtschaftliche Umstände für viele dieser Praktiken verantwortlich. Festzuhalten ist jedoch, dass sich der Überlebensinstinkt häufig dem vermeintlichen Mutterinstinkt gegenüber durchsetzte. Auch Frauen, denen es möglich gewesen wäre, ihr Kind bei sich aufzuziehen und es zu lieben, hatten über Jahrhunderte weg kein Interesse, dies zu tun. Bis ins 19. Jahrhundert haftete dem auch nicht in geringster Weise etwas Skandalöses an.
    Dementsprechend löste auch der Tod eines Kindes nicht unbedingt tiefe
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