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Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben

Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben

Titel: Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben
Autoren: Franziska Seyboldt
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die wegen ihrer Nachtschichten keine Zeit hatte, morgens Brote zu schmieren. Ich kaufte mir dann ein Schokocroissant und Silke aß mein Pausenbrot und fühlte sich geliebt.
    Aber heute war Mittwoch, und mittwochs landete mein Pausenbrot immer im Mülleimer. Schuld daran war Nadines Vater, der irgendwann den Wagner-Tag eingeführt hatte. Jeden Dienstag ging die ganze Familie in die Oper und schaute sich einen Teil aus dem Nibelungenring … nein, Quatsch, es ging natürlich um Pizza. Steinofen-Tiefkühlpizza aus dem Hause Wagner, die mit dem traumhaft knusperdünnen Boden und dem herzhaft saftigen Belag mit dem ganzen Aroma Italiens. Soweit ich wusste, bestand Nadines Familie aus vier Mitgliedern, und entweder verschätzten sie sich regelmäßig mit der Menge oder mindestens zwei von ihnen waren essgestört – anders konnte ich mir nicht erklären, warum immer so viel übrig blieb. Pizzareste, die Nadine dann am Mittwoch mit in die Schule brachte und verteilte. Kalte Pizza. Zum Frühstück. Das war ja so amerikanisch! Und auf einmal war es gar nicht mehr wichtig, dass Nadine komisch roch und keine Zaubertrolle hatte, aber dafür immer aufgesprungene Lippen und einen Schlüssel um den Hals. Sie war sogar richtiggehend beliebt.
    In der vierten Stunde hatten wir Französisch bei Frau Gradinger. Unsere Hausaufgabe war es gewesen, »Sur le pont d’Avignon« auswendig zu lernen, und nun sollten wir uns zu Paaren zusammenfinden und dazu tanzen. Wie aufregend!
    Voller Hoffnung und strategisch geschickt platzierte ich mich in der Nähe von Jakob, während Frau Gradinger die Kassette in den Rekorder einlegte. Jakob, der mit der Zahnlücke und den Grübchen, in den ich noch mehr verliebt war als in Lukas (genau wie sieben weitere der zwölf Mädchen aus unserer Klasse). Doch als die Musik losging, stand Jakob vor Nadine. Und nahm ihre Hand.
    Mir wurde klar, dass auch Jakob strategisch geschickt handelte. Es war nämlich so, dass nie genug Pizza für alle da war – aber Jakob wollte Pizza. Und Nadine wollte Jakob. Also bekam Nadine Jakob und Jakob die Pizza, und alle waren glücklich. Außer wir eifersüchtigen Mädchen, die dabei zusahen. Es ist nicht auszuschließen, dass an diesem Tag der Grundstein für viele BRAVO -Fotolovestorys gelegt wurde.
    Auf dem Heimweg dachte ich darüber nach, was sich Nadine mit ihrer Pizza alles erkaufen konnte: Einladungen zu Geburtstagen, Komplimente, Hausaufgaben – und jetzt auch noch Jakob. Das war ja im Kopf nicht auszuhalten. Ich wollte auch ein Schlüsselkind sein!
    Ich malte mir aus, wie es wäre, nach der Schule ein leeres Haus, einen vollen Kühlschrank und eine Mikrowelle vorzufinden. Keiner da, der die Hausaufgaben kontrolliert oder sich über die Fünf in Mathe aufregt. Keiner da, der einen fragt, wo man hingeht und vor allem, mit wem man sich trifft. Dafür Fertigessen, Cola und Fernsehen. Die ultimative Freiheit!
    Leider waren meine Eltern glücklich verheiratet und arbeiteten viel zu Hause, sodass immer jemand da war, der mittags kochte. Natürlich nur supergesunde Sachen, Krankheit konnten sie sich als Freiberufler nicht leisten.
    Alle paar Monate durfte ich zumindest erahnen, wie es war, ein Schlüsselkind zu sein. Dann, wenn ich nachmittags von einer Freundin nach Hause kam und ein handgeschriebener Zettel auf dem Küchentisch lag: »Liebes, wir kommen heute Abend erst spät nach Hause. Bestell dir was zu essen. Kuss, Mama.« Diese Tage fühlten sich an wie Bifi, Fruchtzwerge und Mezzo-Mix zusammen. Aber heute war keiner von ihnen.
    Stattdessen schickte mich meine Mutter erst mal zum Bioladen, weil wir keinen Käse mehr hatten. Eigentlich ging ich ja gerne einkaufen: zum Metzger, wo ich immer eine Scheibe Lyoner geschenkt bekam, zum Bäcker, wo mir eine Brezel mitgegeben wurde, zum Gemüsehändler, der mir einen Apfel in die Hand drückte. Überall gab es was geschenkt. Nur im Bioladen gab es nichts.
    Als ich die Eingangstür aufdrückte, klingelte ein Windspiel und ich trat ein in eine andere Welt. Dort roch es nach Schmierseife und zuckerfreien Fruchtriegeln, und nie war jemand zu sehen. Kein Kunde, kein Verkäufer, keine Lebensfreude. Ich schlich also ein bisschen zwischen den Regalen herum, nahm dies und jenes heraus und hoffte, dass bald jemand auftauchen würde, denn »Hallo« zu rufen, traute ich mich nicht. Irgendwann klimperte der Vorhang aus Bambusstäben leise und ein schmallippiger, strumpfsockiger und strickpulloveriger Mensch kam heraus. Er nahm keine
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