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Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben

Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben

Titel: Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben
Autoren: Franziska Seyboldt
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das keine Aussichten waren.
    Der Tag, an dem ich beschloss, Klavierunterricht zu nehmen, war wahrscheinlich der glücklichste im Leben meines Vaters. Endlich würde die Tochter in seine Fußstapfen treten!
    Und natürlich kam nur der beste Lehrer für die zukünftige Weltklassepianistin in Frage, in diesem Fall eine Lehrerin.
    Ragna Barkholz hatte alles, was eine gute Klavierlehrerin braucht: eine Professur und einen Vogel. Der Vogel war ein Papagei, der auf den Namen Walther von der Vogelweide hörte, von Frau Barkholz aber liebevoll Walther genannt wurde.
    Einmal die Woche fuhr mich mein Vater zu Frau Barkholz. Sie wohnte in einem Haus mit Marmorboden im Flur und vielen alten Möbeln, und wir fingen nie pünktlich mit dem Unterricht an, sodass ich vorher nochmal auf die Toilette gehen konnte. Das musste ich auch, weil ich Schiss hatte. Ich war nämlich nie gut genug. Selbst wenn ich eine Woche am Stück geübt hätte ohne zu schlafen, wäre Frau Barkholz nicht zufrieden gewesen. Irgendwann öffnete sie die Tür, rief: »Frrrrrrranziska!« und winkte mich zu sich, während aus ihren schwarz gefärbten Haaren Funken sprühten. Ich huschte mit gesenkten Augen an ihr vorbei und setzte mich ans Klavier.
    Überall im Zimmer lagen Noten herum und unter dem Klavier rumpelten drei Karnickel im Käfig, leider nicht im richtigen Takt. Walther hingegen saß auf dem Kronleuchter und ignorierte die Kundschaft. Nur wenn ich ein modernes Stück spielte, flog er hektisch einige Runden durchs Zimmer und landete auf der Schulter von Frau Barkholz. »Walther hält nicht viel von Jacques Ibert«, sagte sie dann und kraulte den fedrigen Papageienhals. Ich auch nicht, wollte ich sagen, doch Walthers Schnabel war gefährlich nahe an meinem linken Ohr. Also spielte ich weiter.
    Mein Vater saß während meiner Unterrichtsstunden mucksmäuschenstill auf einem kaputten Stuhl in der Ecke des Zimmers, weil Frau Barkholz wollte, dass er meine Fortschritte verfolgt. Sie trug ihm außerdem auf, zu Hause meine Fingerübungen zu überwachen. Jeden Tag. Eine Stunde. Doch je geduldiger und bemühter er war, desto abstoßender fand ich das Klavier. Als ich irgendwann merkte, dass mir sogar die Mathehausaufgaben mehr Spaß machten als die Etüden von Czerny, beschloss ich mit dem Klavierunterricht aufzuhören. Und obwohl mein Vater enttäuscht war, dass ich nun doch nicht in seine Fußstapfen treten würde, akzeptierte er meine Entscheidung. Nur deshalb sind das Klavier und ich heute noch Freunde.

4 Ein langsamer Mensch verkauft Dinge in einem Naturkostladen. Das Müslimädchen tauscht
sein Pausenbrot gegen Schokocroissants und träumt davon, Wagnerianer zu sein.
    Regelmäßig wurde ich morgens von der Resonanzkatastrophe geweckt. Die Resonanzkatastrophe, das war meine Mutter. Sie polterte in mein Zimmer stampfte zum Fenster, zog den Rollladen mit einem Ruck hoch und sang ein von ihr erfundenes Wecklied, das zweifellos seinen Zweck erfüllte, nur leider nicht auf die Art, die ich bevorzugt hätte: gar nicht oder wenigstens sanft. Das Lied ging so: Guten Morgen / mein Schatz / wach auf / hast du gut geschlafen? Immer die gleiche Frage, und dann auch noch gesungen. Im zweistelligen Oktavbereich! Wenn es sich wenigstens gereimt hätte. Jeden Tag wartete ich darauf, dass das Fensterglas mit lautem Klirren in tausend Stücke zerspringen würde, aber das Einzige, was explodierte, war ich. Unter der Bettdecke, die ich mir vorher über den Kopf gezogen hatte.
    Nach dem Aufstehen ging ich in die Küche, wo es immer ein bisschen zu kalt war und wo nie das Radio lief oder eine Eieruhr, sondern nur meine Nase. Die Heizung wurde aus Prinzip nicht vor November angemacht, und es gab nicht mal eine Mikrowelle oder einen Toaster, die ein wenig Wärme hätten spenden können. Und um das Anschalten des Backofens zu rechtfertigen, hätte es was zum Aufbacken geben müssen. Gab es aber nicht. Nur einen Laib Dinkelvollkornbrot und Butter, die beim Aufstreichen Löcher ins Brot riss, weil meine Mutter nie daran dachte, sie rechtzeitig aus dem Kühlschrank zu holen. Dazu gab es selbst gemachte Johannisbeermarmelade, die beim Essen durch die Löcher im Brot kleckste und kleine rote Tropfen auf dem weißen Teller hinterließ.
    Das war nicht das, was ich mir unter einem angemessenen Frühstück vorstellte, aber angeblich gab es ja Leute, die gerne spartanisch lebten. Ich malte mir aus, wie meine Eltern Erholungsurlaube anbieten würden für die Sorte Menschen, die eine Woche ins
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