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Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben

Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben

Titel: Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben
Autoren: Franziska Seyboldt
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hörte.
    »Al-le Wi-hin-de schla-fen a-hauf dem Spie-hie-gel der Flut.«
    Ich sah von meinen Hausaufgaben auf und schüttelte den Kopf. Nele schaute mich an und brach ab.
    »Was ist los?«, sagte meine Mutter.
    Nele deutete auf mich.
    »Es gefällt ihr nicht.«
    »Aha«, sagte meine Mutter.
    Ich malte weiter Buchstaben auf das Papier.
    »War die Intonation falsch?«, fragte Nele. Sie war verunsichert.
    »Nein«, sagte meine Mutter.
    »Nein«, sagte ich. »Aber der Ansatz war unsauber.«
    »Das stimmt«, sagte meine Mutter. »Also Nele, nochmal von vorne.«
    Nele brachte mir dann immer Geschenke mit. Damit ich die Klappe hielt.
    Die akademischen Mittelschichtseltern, die ihre Kinder in den chinesischen Kindergarten schicken, legen aber nicht nur Wert auf deren Förderung, sondern auch darauf, alles Böse von ihnen fernzuhalten. Scheidungen, Pornos, Killerspiele, Drogen und Kinder aus bildungsfernen Familien. Dabei übersehen sie jedoch, dass bildungsbürgerliche Erziehung nicht notwendigerweise vor psychosozialen Defekten schützt.
    Papa:
    In der Fremde ist ein Gedicht von Joseph von Eichendorff, das Robert Schumann 1840 vertont hat. Der Text lautet: Aus der Heimat hinter den Blitzen rot / Da kommen die Wolken her / Aber Vater und Mutter sind lange tot / Es kennt mich dort keiner mehr / Wie bald, ach wie bald kommt die stille Zeit / Da ruhe ich auch, und über mir / Rauscht die schöne Waldeinsamkeit / Und keiner kennt mich mehr hier. Es gehört zum Liederkreis Opus 39 , der zwölf Gedichte umfasst und sehr berühmt ist. Die Tonart Fis-Moll wurde von Schumann oft bei schmerzlichen Stimmungen eingesetzt, was durch die verminderten Sept-Akkorde und die Dissonanzen noch verstärkt wird. Obwohl das Lied im Viervierteltakt geschrieben ist, wird die zweite und vierte Note akzentuiert, was die Blitze lautmalerisch beschreibt. Doch dann! Im Mittelteil gibt es eine Aufhellung, nämlich die Rückführung nach Dur, was wie eine Heimat wirkt. In der ganzen Komposition steckt so etwas wie eine Gesamtexistenz über den Tod hinaus, also eigentlich etwas sehr Urweltliches und bei aller Schlichtheit sehr Seelentiefes. Es ist ein romantisches Stück, im Sinne von beseelt, empfindsam, was sicherlich auch an der kongenialen Zusammenarbeit von Schumann und Eichendorff liegt.
    Mein siebenjähriges Ich hatte kein Interesse an Gesamtexistenzen. Stattdessen kamen genau drei Dinge bei mir an.
    1 . rote Blitze
    2 . tote Eltern
    3 . traurige Musik.
    Jeder Psychologe würde für so einen Fall seine eigene Mutter verkaufen und freudig in die Hände klatschen.
    Psychologe:
    Ähm, also das ist ja total offensichtlich, nicht wahr. Da liegt ganz klar eine Störung des Urvertrauens vor. Das Kind hat durch dieses durchaus problematische Lied gelernt, dass Gewitter sehr gefährlich sind, wurde aber nicht durch die, ähm, liebenden Arme der Eltern aufgefangen, nein, es wurde mit seiner Angst alleingelassen. Denn die Eltern – und genau dazu sind selbst kleine Kinder schon in der Lage, also Zusammenhänge zu erkennen – sind ja tot. Sie können es also nicht retten. Niemals. Im weiteren Verlauf seines Lebens wird das Kind mit großer Wahrscheinlichkeit erstens Blitze immer als etwas tief Bedrohliches empfinden und zweitens möglicherweise eine Verlustangst entwickeln, da es sich seiner Eltern nie wirklich sicher sein kann. Später äußert sich diese psychische Schädigung oft in einem Kontrollzwang, welcher wiederum zu eklatanten, ähm, Beziehungsstörungen führen kann.
    Oder so. Auf jeden Fall musste ich jedes Mal weinen, und da meine Eltern nichts davon hielten, ihre Tochter zu quälen, spielten sie das Lied einfach nicht mehr. Killerspiele gefährden die seelische Entwicklung? Scheidungen traumatisieren ein Kind? Ja und ja. Aber angesehenes Kulturgut auch.
    Abends, wenn ich ins Bett musste, hatte mein Vater endlich Zeit, auf seinem Flügel zu spielen. Weil das Wohnzimmer nur durch eine dünne Wand vom Kinderzimmer getrennt war, konnte ich optimal von den Fingerübungen meines Vaters profitieren.
    Nun ist es ein Unterschied, ob jemand Klavier spielt oder Klavier übt. Um sich schöne Lieder anzuhören, gehen Menschen sogar in Konzerte und investieren einen Teil ihres hart verdienten Geldes. Und kein Nachbar regt sich auf, wenn aus der Nebenwohnung eine Sonate von Beethoven erklingt, die sich anhört wie vom Band. Aber wehe, jemand übt Tonleitern. Oder immer wieder die gleiche Stelle, wie eine Platte, die einen Sprung hat. Wer reitet so spät durch
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