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Mr. Lamb

Mr. Lamb

Titel: Mr. Lamb
Autoren: Bonnie Nadzam
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so eine Süße, überall Sommersprossen. Und wie ihm fast die Stimme versagt war, als er sagte, er fühle sich geehrt, so viele zu sehen, ob sie wohl ihm gehörten? Konnten sie sagen, dass sie ihm gehörten? Was für ein kostbares Geschenk. So teuer. Und hört mir zu: Er wusste es.
    Als sie am nächsten Morgen in ihrem winzigen Parka half, den Wagen zu beladen, sah er sie wieder in ihrem hautengen lila Top, wie sie von den törichten Mädchen herumgeschubst wurde. Ihr ganzer Körper und ihre innere Welt waren durch seine Hände erwacht. Ihre Wangen und ihre Nasenspitze waren von der Kälte rosa. Sie schniefte und fuhr sich mit dem Ärmel unter der Nase lang.
    »Emily Tom. Bevor wir fahren. Legst du dich mit mir auf das Wildlager am Fluss?«
    »Meinetwegen.«
    »Darf ich dich um etwas bitten?«
    »Was?«
    »Kannst du …« Er blickte auf seine Hände, dann in ihr Gesicht, dann wieder runter. »Kannst du dein Nachthemd anziehen?«
    Sie sah auf ihre Jeans und den Parka. »Dann musst du mich wärmen.«
    »Das tue ich.«
    Später betrachtete der Mann sie als glückliche Fügung, als einen Irrtum, einen seltsamen Abschnitt, den sie überlebte, als sie elf war. In seiner Erinnerung wurde das Mädchen noch schöner, noch kostbarer. Für sie wurde er zu einem Monster.
    * * *
    Im Osten von Wyoming und im Westen von Nebraska tobten Eisregen und heftige Winde. Das Mädchen saß zitternd auf dem Beifahrersitz, ihre Lippen weiß, neben ihr saß schwitzend Lamb, zwischen sich hatten sie eine orangefarbene Flasche Hustensaft und Becher mit heißem Tee, den sie an den Tankstellen kauften. Alle halbe Stunde oder so befühlte Lamb ihr Gesicht von der Seite her, und sie machte die Augen auf und versuchte zu lächeln.
    »Du siehst schlimm aus«, sagte sie dann.
    »Du noch schlimmer.«
    In Grand Island holte er die schmutzige Cubs-Mütze von der Rückbank und setzte sie ihr auf. In Omaha hielten sie an, aßen Suppe mit Eierstich und schliefen zwölf Stunden bei laufendem Fernseher in einem Holiday Inn, beide schwach und fiebrig, mit schmerzenden Gliedern. Als sie wieder im Auto saßen, gab er ihr Nyquil und Ingwerbier, und sie schlief mit Unterbrechungen bis Council Bluff. Als sie Des Moines erreichten, kamen sie langsam aus dem Dunst von Arzneimitteln, Halsschmerzen und rasenden Kopfschmerzen heraus. Lamb fuhr wieder zu dem kleinen grünen Motel, jetzt ein öder Anblick inmitten schwarzer nasser Blätter.
    »Mochtest du mich, als wir damals hier angehalten haben? Ich glaube, ja.«
    »Ich glaube auch«, sagte sie.
    »Wie wusstest du das?«
    »Ich wusste es einfach.«
    »Magst du mich immer noch, Tom?«
    »Ja.«
    »Obwohl ich ein Lügner und ein Dieb bin?«
    Sie gab ihm einen leichten Schlag mit der Faust auf die Schulter.
    »Junge«, sagte er, »am Anfang unserer Reise hattest du viel mehr Kraft. Wir müssen dir Spinat zu essen geben.«
    Sie grinste.
    »Dein Körper hat sich seit September verändert«, sagte er. »Daran ist kein Zweifel.«
    »Ich weiß.«
    Er flüsterte. »Liegt das an mir?«
    Sie flüsterte zurück. »Ich glaube, das wäre sowieso passiert.«
    Seine Augen füllten sich mit Tränen, die Welt vor der Windschutzscheibe war plötzlich verschwommen. »Du weißt immer, was du sagen musst.« Und dann fing er an zu weinen. Lautes Weinen, mit großen Tränen. Seine Brust bebte, und sein Gesicht war verzerrt wie bei einem kleinen Jungen. Was bliebe ihm, wenn sie nicht mehr da war: ein Loch, das sie mit ihren tröstlichen Worten gefüllt hatte. Seine Zweifel, die Schreckgestalten, die zu bezähmen er ihr beigebracht hatte – sie würden ihn an der Gurgel packen, das wusste er.
    »Versprich mir eins, Liebes«, sagte er. Sagen wir, sie hatte sich an seine Tränenausbrüche gewöhnt – sagen wir, er hatte öfter welche gehabt. Sagen wir, er hatte sie schon eine Weile lang gehabt, manchmal nachmittags, manchmal auch morgens am Feuer. »Wenn du eines Tages feststellst, dass du mich hasst.«
    »Ich werde dich nicht hassen.«
    »Sag das nicht. Möglich ist es. Und ich muss das sagen, ja?«
    Sie wartete. Seine Stimme war kratzig und hoch.
    »Wenn du feststellst, dass du mich hasst, dass du wütend auf mich bist und dass ich dein Leben zerstört habe. Wenn ich neunzig bin. Oder wann immer.« Er sprach nicht weiter. Sie nickte, er solle fortfahren. Sie war schon eine richtige kleine Frau. »Dann kommst du zu mir, um mir das zu sagen, ja? Du kaufst dir ein Paar Stiefel mit Stahlkappen und kommst zu mir, wo ich allein und verschrumpelt
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