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Moskauer Diva

Moskauer Diva

Titel: Moskauer Diva
Autoren: B Akunin
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nicht als Mittel zum Zweck benutzen dürfe, würde das wohl kaum gutheißen – und nach einem Jahr philosophischer Studien betrachtete Fandorin den Königsberger Weisen als höchste moralische Autorität. Darum war die Erforschung des »Aufrichtigkeitsproblems« für Erast Petrowitsch eher abstrakter wissenschaftlicher Natur.
    Offen blieb allerdings die Frage, inwieweit die Anwendung der neuen Methode bei der Verfolgung von besonders üblen Taten und von Verbrechen, die eine echte Gefahr für Staat und Gesellschaft bargen, ethisch vertretbar war.
     
    Just darüber dachte Fandorin seit drei Tagen angestrengt nach – seit er vom Attentat auf Premierminister Stolypin erfahren hatte. Am Abend des 1. September hatte ein junger Mann in Kiew zwei Mal auf den obersten russischen Politiker geschossen.
    Vieles an diesem Ereignis wirkte geradezu phantasmagorisch. Erstens hatte sich das blutige Drama nicht irgendwo abgespielt, sondern im Theater, vor den Augen eines vielköpfigen Publikums. Zweitens lief ein recht heiteres Stück – »Das Märchen vom Zaren Saltan«. Drittens war nicht nur der Märchenzar zugegen, sondern auch der echte, und den rührte der Attentäter nicht an. Viertens wurde das Theater so streng bewacht, dass kein Gwidon 1 dort hätte eindringen können, auch nicht in eine Mücke verwandelt. Die Zuschauer wurden nur mit von der Geheimpoliziei ausgestellten persönlichen Besucherkarten eingelassen. Fünftens – und das war am unglaublichsten – besaß der Terrorist eine solche Besucherkarte, und die war nicht einmal gefälscht, sondern echt. Sechstens hatte der Täter nicht nur in das Theater gelangen, sondern auch noch eine Handfeuerwaffe einschmuggeln können.
    Nach den Informationen zu urteilen, die Erast Petrowitsch erreichten (und seine Quellen waren zuverlässig), machte der Verhaftete keinerlei Aussagen, die dieses Rätsel zu lösen vermochten. Hier wären die neuen Vernehmungsmethoden sehr hilfreich gewesen!
    Während das Regierungsoberhaupt im Sterben lag (die Verwundung war leider tödlich), während unfähige Ermittler sinnlos Zeit verloren, bebte und schwankte das ohnehin von zahlreichen Problemenheimgesuchte Riesenreich – womöglich würde es unversehens stürzen, wie ein überladenes Fuhrwerk, das in einer scharfen Kurve seinen Kutscher verloren hat. Allzu viel bedeutete Pjotr Stolypin für den Staat.
    Fandorins Verhältnis zu diesem Mann, der fünf Jahre lang fast uneingeschränkt Russland regiert hatte, war kompliziert. Erast Petrowitsch schätzte den Mut und die Entschlossenheit des Premiers, hielt jedoch vieles an Stolypins Kurs für falsch, ja für gefährlich. Dennoch stand für ihn außer Zweifel, dass Stolypins Tod ein empfindlicher Schlag für den Staat war und das Land dadurch in ein neues Chaos zu sinken drohte. Vieles hing jetzt von einer raschen und effektiven Aufklärung ab.
    Fandorin war sicher, dass man ihn als Experten hinzuziehen würde. Das war auch früher häufig geschehen, wenn die Ermittlungen in einem außerordentlichen Fall stagnierten, und etwas Außerordentlicheres und Wichtigeres als das Kiewer Attentat war schwer vorstellbar. Zumal Erast Petrowitsch den Premierminister persönlich gekannt hatte – er hatte mehrfach auf dessen Bitte an kniffligen oder besonders heiklen staatswichtigen Ermittlungen mitgewirkt.
     
    Die Zeiten, da Fandorin aufgrund eines Konflikts mit den Mächtigen gezwungen gewesen war, sein Land und seine Heimatstadt für viele Jahre zu verlassen, waren längst vorbei. Fandorins persönlicher Widersacher, einst der mächtigste Mann in der alten Hauptstadt (besser gesagt, das, was von seinem kaiserlichen Leib übrig war), ruhte seit langem in einer pompösen Gruft, von den Bewohnern der Stadt nicht übermäßig betrauert. Nichts hinderte Fandorin, so viel Zeit in Moskau zu verbringen, wie er wollte. Nichts – außer seinem Hang zu Abenteuern und neuen Eindrücken.
    Wenn Fandorin sich in der Stadt aufhielt, mietete er stets ein Gartenhaus in der Maly-Uspenski-Gasse, die im Volksmund Swertschkow-Gasse hieß. Vor langer Zeit, vor rund zweihundertJahren, hatte ein gewisser Kaufmann Swertschkow 2 hier ein Steinhaus errichtet. Der Kaufmann war lange tot, das Palais hatte mehrfach den Besitzer gewechselt, doch der anheimelnde Name hielt sich noch immer im Moskauer Gedächtnis. Hier erholte sich Fandorin von seinen Reisen und Forschungen und lebte ruhig und still – wie ein Heimchen hinterm Ofen.
    Das Haus war bequem und für zwei Personen recht
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