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Mortlock

Mortlock

Titel: Mortlock
Autoren: Jon Mayhew
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Papieren. Tante Mag versetzte ihr eine Ohrfeige, und Josie wich mit einem Schrei zurück.
    »Daran hättest du denken sollen, bevor du sie deinem Vormund weggenommen hast«, zischte Tante Mag. Sie wandte sich um und verließ das Zimmer.
    Josie rollte sich auf dem Bett zusammen. Ihre Wange brannte. Ganz gleich, was sie tat, die Tanten kamen ihr immer zuvor. Heiße Tränen rannen ihr übers Gesicht, und sie vergrub den Kopf in ihrem Kissen. Verzweiflung überkam sie.
    Wie konnte sie Cardamom nur helfen?



Wenn ich einst tot im Grabe lieg
    Und Lehm deckt meinen Leib,
    Singt über mir die Nachtigall
    Zum süßen Zeitvertreib.
    Lied zum Maienfest
(Bedfordshire May Day Carol),

altes Volkslied

5. KAPITEL

Eine letzte Botschaft
    Josie strich sich ihr Haar aus dem geschwärzten Gesicht, hievte den Eimer hoch und schüttete glitzernde Kohlestücke ins Küchenfeuer. Dann ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und stützte seufzend den Kopf in die Hände. Es war schwer, die Zeit im Blick zu behalten, aber sie war sicher, dass mindestens schon fünf Tage vergangen waren.
    Es gelang ihr nicht, auch nur einen Moment mit Cardamom allein zu verbringen. Die Tanten waren immer in der Nähe oder tauchten wie aus dem Nichts auf. Unablässig flatterten sie um ihn herum, kümmerten sich um all seine Bedürfnisse, brachten ihm Tee und schüttelten sein Kissen auf.
Sie bringen ihn noch um mit ihrer Hilfsbereitschaft
, dachte Josie. Doch die zwitschernde Fröhlichkeit, das mitfühlende Lächeln und die zuckersüßen Worte waren nur gespielt.
    Josie hatte überlegt, ob sie sich nachts hinausschleichen sollte, doch das Bild des riesigen, bösartigen Vogels auf dem Treppengeländer vor ihrem Zimmer verfolgte sie. Sie konnte nichts anderes tun, als ab und an einen Blick in Cardamoms Schlafzimmer zu werfen, wo sie sein erschöpftes bleiches Gesicht auf dem Kissen liegen sah. Sobald sie versuchte, an sein Bett zu treten, scheuchte eine der Tanten sie hinaus.
    »Das ist kein Ort für ein Kind«, krächzte Tante Jay. »Und kein schöner Anblick für dich, junge Dame.«
    »Außerdem laugst du den armen Mann nur aus!«, rief Tante Mag, packte sie am Ellbogen und schob sie Richtung Treppe. Aber in Wirklichkeit laugten
sie
ihn aus. Cardamom wurde von Tag zu Tag schwächer.
    Jetzt spürte Josie, wie die abendliche Kälte durch den Riss im Küchenfenster hereindrang. Sie stellte sich die Leute in ihren Häusern vor, wie sie Feuer im Kamin machten und die Gaslampen anzündeten.
Er
war auch irgendwo da draußen. Der Mann, der sie beobachtet hatte. Die Tanten hockten am anderen Ende des Tisches, schenkten sich Tee ein und musterten Josie. Ihre funkelnden schwarzen Blicke jagten Josie einen kalten Schauer über den Rücken, obwohl sie nah beim Feuer saß.
    Josie streckte sich und gähnte. Sie stand auf und ging unauffällig zur Tür.
    »Wo willst du denn hin, junge Dame?« Wie um der Frage Nachdruck zu verleihen, stellte Tante Jay klirrend ihre Tasse ab.
    »Ins Bett. Ich bin müde«, murmelte Josie achselzuckend. »Es war ein langer Tag, und ich muss mich ausruhen, wenn ich morgen den Ofen schwärzen soll.«
    »Gut«, krächzte Tante Veronica. »Dann bringe ich dich rauf und decke dich zu.«
    Sie meint wohl »und schließe dich ein«
, dachte Josie.
    »Nicht nötig, Veronica«, sagte Tante Mag, die Tasse auf halbem Weg zum Mund. Sie sah nicht einmal in Josies Richtung. »Sie ist ein großes Mädchen. Sie kommt schon allein zurecht.«
    »Wie du meinst«, grummelte Tante Veronica und kehrteraschelnd zu ihrem Stuhl zurück. Josie sah, wie sie Tante Mag einen misstrauischen Blick zuwarf. »Gute Nacht, Josie.«
    »Gute Nacht«. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Das war ihre Chance! Sie lief, so leise es ging, die Treppe hinauf.
    Vorsichtig betrat sie Cardamoms Zimmer. Es roch abgestanden und muffig. Schwere Vorhänge dämpften jedes Geräusch. Der Schrank, Cardamoms Schreibtisch, die Kommode – alles schien sich zusammenzudrängen und den einzigen Bewohner des Raums zu erdrücken. Das Bett war ein wirres Durcheinander aus zerwühlten Laken und Decken. In einer Ecke brannte eine einzige, schwache Kerze. Josie hörte Cardamoms rasselnden Atem. Seine Wangen waren ausgemergelt, und seine Haut sah aus wie vergilbtes Pergament.
    »Josie, bist du das?«, ächzte er und spähte in das dämmrige Licht. »Wo warst du? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich dachte –«
    »Keine Sorge, jetzt bin ich ja da. Ich hole dich hier raus«, flüsterte Josie. Sie lief zu ihm und
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