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Mortlock

Mortlock

Titel: Mortlock
Autoren: Jon Mayhew
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wahrscheinlich nicht einmal bemerken würde – oder erst wenn es zu spät war. Und wenn die Tanten dem Direktor des Theaters gesagt hatten, dass Cardamom an einem Fieber litt, würden die Leute aus Angst vor einer Ansteckung das Haus nicht betreten. Im Sommer waren Tausende an einer Cholera-Epidemie gestorben.
    Aber irgendjemanden
musste
sie holen, und wenn es ein Arzt oder ein Polizist war! Diese Frauen waren böse, so viel wusste sie. Sie musste etwas unternehmen.
    Josie beschloss, sich hinauszuschleichen und zu Gimlet zu gehen. Sie spähte durch das schmutzige Küchenfenster. Draußen prasselte der Regen nieder und ließ die verrußten Mauern der Häuser gegenüber glänzen. Kutschen ratterten vorüber, und ein paar Passanten eilten mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern über den Gehsteig.
    Nur eine Gestalt stand aufrecht und reglos da, genau gegenüber auf der anderen Straßenseite. Josie hielt den Atem an. Sie erkannte den hochgewachsenen, schäbig gekleideten Mann sofort. Es war derselbe, der sie am Ausgang des Theaters beobachtet hatte. Als hätte er gespürt, dass er beobachtet wurde, wandte er sich plötzlich um und lief die Straße hinunter.
    Nein, gehen Sie nicht!
, schrie es in Josies Kopf. Wer auch immer er war, vielleicht konnte er ihnen helfen.
    Sie rannte durch den Flur zur Haustür und griff nach der Klinke, als das Rascheln von Seidenröcken sie herumfahren ließ. Tante Veronica stand hinter ihr, groß und dunkel, mit verkniffener Miene.
    »Ist alles in Ordnung, meine Liebe?« Sie schnalzte mit der Zunge und ließ den Kopf hin und her wippen.
    »Ja«, sagte Josie. »Ich wollte nur ein bisschen frische Luft schnappen, weiter nichts.«
    »Aber doch nicht bei diesem Wetter.« Lächelnd trat Tante Veronica auf sie zu. »Du holst dir noch den Tod …«
    »Ich möchte nur einen Moment nach draußen.«
    Tante Veronica war jetzt so nah, dass Josie ihren Atem auf ihrem Haar spüren und die Leberflecken an ihren Händen sehen konnte. Die alte Frau packte sie am Handgelenk, so fest, dass Josie vor Schmerz zusammenzuckte.
    »Ich glaube, es wäre nicht sehr klug, jetzt hinauszugehen, Josie.« Tante Veronicas Gesicht verzerrte sich, als sie Josies Hand von der Klinke wegzog. »Was würde dein Vormund wohl davon halten, wenn wir dich bei strömendem Regen draußen herumlaufen ließen?« Das zuckersüße Lächeln kam wieder zum Vorschein. Josie wich taumelnd zurück und massierte sich das Handgelenk. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie kämpfte mit den Tränen. Der Mann war bestimmt längst verschwunden.
    »Und jetzt husch-husch«, sagte Tante Veronica und klatschte in die Hände. »In der Küche wartet das Geschirr, und der Boden muss gewischt werden. Hier ist alles voller Dreck!«
    Schweren Herzens ging Josie durch den dunklen Flur zurück in die Küche.
    Scotland Yard
3. November 1844
    Werter Herr,
    ich muss Ihnen bedauerlicherweise mitteilen, dass unsere Suche nach Sebastian Mortlock erfolglos geblieben ist. Unsere Wachmänner haben an seinem Wohnort und in der Nachbarschaft Nachforschungen angestellt, jedoch ohne Ergebnis. Es ist durchaus möglich, dass er wieder ins Ausland gereist ist, wie er es offenbar bereits früher häufig getan hat. Sollte er sich zu einem späteren Zeitpunkt bei Ihnen melden, wären wir Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns darüber informieren würden.
    Ihr ergebenster Diener,
    Chief Inspector T. Mealor
    Josie faltete den Brief zusammen und ließ sich gegen das Kopfende ihres Betts sinken. Wer auch immer dieser Mortlock war, anscheinend hatten er und Cardamom sich über irgendetwas gestritten, und dann war Mortlock verschwunden. In dem anderen Brief hatte er Cardamom vorgeworfen, er wäre ein Dieb. Was konnte Cardamom genommen haben, das zu einem solchen Streit geführt hatte? Und wo war Mortlock jetzt? Josie dachte an den Mann, der sie beobachtet hatte. Und wenn er es war? Es konnte ja durchaus sein, dass er nach all den Jahren zurückgekommen war, um sich etwas zu holen, das Cardamom ihm gestohlen hatte.
Aber Onkel ist kein Dieb
, dachte sie kopfschüttelnd.
    Ein Schatten fiel auf Josie. Erschrocken drückte sie den Brief an die Brust. Sie hatte vergessen, die Tür abzuschließen. Tante Mag starrte sie drohend an.
    »Was haben wir denn da?« Tante Mag entriss ihr den Brief, schnappte sich die übrigen Papiere und das Tagebuch und beugte sich zu Josie hinunter. »Eine interessante Bettlektüre für uns.«
    »Die sind privat«, protestierte Josie und griff nach den
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