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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis
Autoren: Michael Marrak
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Vorbauten, die wir für Pylonsäulen gehalten hatten, waren primitive, aufrecht stehende Steinsarkophage! Jeder von ihnen beherbergte einen mumifizierten Wächter – aufrecht stehend bestattet, mit einer bronzenen Lanze in den zusammengeschnürten Händen. Die Pyloren waren weder bandagiert noch mit wertvollen Accessoires geschmückt, sondern nur einbalsamiert und in einer schlichten, leidlich gut erhaltenen Uniform beigesetzt worden, die aussah, als sei sie aus Krokodilsleder gefertigt. Die skelettierten Schädel der Torwächter waren nach hinten gefallen, ihre Unterkiefer wie zu einem letzten Schrei herabgesunken – und in der Kieferhöhle jedes Toten ruhte ein steinerner Uräuskopf.
    Die ägyptische Antikenverwaltung ordnete an, die Mumien zur Untersuchung und Altersbestimmung umgehend nach Assuan zu überführen. Zudem stellte man uns – anscheinend hellhörig geworden – Rahmed Hanzah zur Seite. Er sollte von nun an die Grabungen mit beaufsichtigen und dem Kultusministerium über alle neuen archäologischen Erkenntnisse Bericht erstatten. Zum Glück kannte ich Rahmed und seinen Bruder bereits seit Jahren und wusste, dass er die ihm von der Antikenverwaltung in die Hand gegebenen Zügel nicht zu straff anziehen würde.
    Als wir bereits glaubten, gegen weitere Sensationen gefeit zu sein, erhielten wir das Ergebnis der Radiokarbon-Analyse. Laut C14-Untersuchung betrug das Alter der bestatteten Wächter mehr als zehntausend Jahre! Radiometrische Messungen bestätigten eine Datierung ihrer Beisetzung um das Jahr 8200 vor Christus. Die Pyramide war somit über fünftausend Jahre älter als der Stufenbau von Sakkara – wobei nicht auszuschließen war, dass ihr Bau noch früher stattgefunden hatte.
    Károly platzte schier vor Berufsstolz. Seinem Instinkt war es zu verdanken gewesen, dass wir das bislang älteste Steinbauwerk der Menschheit entdeckt hatten. Während er mit Rahmed und den Arbeitern abends eine kleine, improvisierte Feier veranstaltete, hockte ich ein paar hundert Meter vom Lager entfernt mit einer Flasche Whisky auf einer Anhöhe und zählte weiße Mäuse. Seit die Ausgrabungen begonnen hatten, zerrte dieses steinerne Unding dort draußen an meinen Nerven, und die Anspannung verlangte immer öfter danach, sich Luft zu machen. Das war der Grund, weshalb ich so gereizt war und die Arbeiter den Namen ›Hype‹ ausgesprochen passend fanden.
    Die nächste Überraschung erwartete uns im Inneren der Pyramide: Nachdem wir den Eingangsschacht von Sand und Geröll befreit hatten, stießen wir in einer Tiefe von sechs Metern auf einen horizontalen, mit Schutt und Kies gefüllten Gang, der ins Innere des Bauwerks führte. Seltsamerweise schien er nicht auf natürliche Weise von Flugsand, angeschwemmtem Geröll und herabgestürzten Felsen verschüttet worden zu sein. Die Decke war weitgehend intakt und der Stollen zu lang, um es dem Wind zu ermöglichen, Sand bis in die hintersten Winkel zu treiben. Aus einem noch unerfindlichen Grund schien der Gang vor Jahrtausenden absichtlich aufgefüllt worden zu sein.
    Gesteinsproben aus dem Inneren machten deutlich, dass das Bauwerk in Wirklichkeit nur eine ›halbe‹ Pyramide war. Während die Steinquader der äußeren Hülle aus nubischem Sandstein gehauen waren, bestand ihr Kern aus massivem, wasserundurchlässigem Vulkangestein. Den Gang, der ins Innere führte, hatte man bereits nach wenigen, noch von Sandsteinmauern gesäumten Metern ins massive Felsgestein getrieben. Es wirkte fast, als hätten die Erbauer sich die Mühe ersparen wollen, eine komplette Pyramide vom Fundament bis zur Spitze zu errichten und stattdessen ›nur‹ einen kleinen, erloschenen Vulkankegel verkleidet. Sollte diese Hypothese zutreffen, konnte sie zumindest die für ein solches Unterfangen geeignetere Sechseck-Form des Bauwerks erklären.
    Ein Vulkan in dieser Gegend war keinesfalls etwas Besonderes. Der gesamte Djebel Uweinat war das Resultat vulkanischer Aktivität, wie auch der ursprüngliche Name des Bergmassivs verdeutlicht: Djebel Nari – Feuerberg. Südöstlich des Gilf Kebir erheben sich die Eight Bells und die Clayton-Krater. Eine Fülle von Felsgravuren in den Höhlen des Wadi Surah und des Wadi Talh beweisen, dass die Region schon zur Zeit der Erbauung der Pyramide fruchtbar und von Menschen bevölkert war. Vor sechs- bis zwölftausend Jahren gab es in den Tälern am Fuße des Gilf Kebir große Seen, und viele Felszeichnungen zeigen Tiere und jagende, tanzende und schwimmende
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