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Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)

Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)

Titel: Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
Autoren: Jennifer Wolf
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um den Eichhörnchen nachzujagen. Aber warum sagt mir niemand was?
    »Alison, du hast keinen Bruder«, sagt Mum und legt mir besorgt die Hand auf die Stirn. »Kein Fieber«, murmelt sie. »Was ist denn nur los mit dir?«
    »Was ist los mit euch? Selbstverständlich habe ich einen Bruder! Er heißt Jeremy, ist am siebzehnten Juni zehn Jahre alt geworden und euer kleiner Engel! Was ist ihm zugestoßen? Ich schreie das Haus zusammen, wenn ihr mir nicht sofort sagt, was passiert ist!« Meine Stimme überschlägt sich.
    »Du schreist ja schon das Haus zusammen. Beruhig dich, Kind. Du hast keinen Bruder!«, wiederholt Mum und schüttelt mich an den Schultern.
    Ich verstehe nicht, wie sie so etwas behaupten kann, und Wut wechselt sich mit Panik ab. Aber Mum bleibt so ernst, dass mir plötzlich der Gedanke kommt, ich könnte Jeremy tatsächlich herbeifantasiert haben. Vielleicht stimmt etwas mit mir nicht, mit meiner Wahrnehmung. Ich befreie mich aus Mums Griff und renne in mein Zimmer, um ein Foto von Jeremys letztem Geburtstag zu holen, auf dem wir alle Piratenhüte tragen. Die Tür steht einen Spalt offen, als ich sie ganz aufstoße, verliere ich das Gleichgewicht vor Schreck und muss mich am Treppengeländer festhalten. Auf dem grünen Teppich liegt ein großer, graumelierter Hund mit langem, zottigem Fell, der den Kopf hebt und mit seiner Rute klopft, als er mich sieht.
    »Was zum Teufel …? Raus! Verschwinde dahin, wo du hergekommen bist!«
    Der Hund trollt sich die Treppe runter. Ich brauche eine Sekunde, dann stürze ich zum Schreibtisch, stolpere über den Stapel Magazine, der sich über dem Teppich ausbreitet. Der Kakaofleck! Er wäre nicht da, wenn Jeremy nicht existieren würde, oder? Mit fliegenden Händen schleudere ich die Magazine beiseite. – Was? Das kann nicht sein! Er ist weg! Nichts! Nur apfelgrüne Wolle, kein Fleck. Ich bin mir sicher, nicht zu träumen, kneife mir aber trotzdem in die Wange. Es tut weh.
    Hektisch stolpere ich zu meinem Schreibtisch, reiße meine Bücher um. Das Tagebuch fällt auf die Erde, klappt auf. »Kein Schloss! Wo …« Mein Blick fällt auf die beiden Bilderrahmen, mir wird schwindelig und gleichzeitig eiskalt. Ich sehe Mum, Dad, meine Tante Rose und mich selbst beim Zelten an einem See. Die Aufnahme entstand in einem der Nationalparks im Redwood-Forest, ich muss etwa acht gewesen sein. Mit klaffender Zahnlücke grinse ich in die Kamera. Aber dort, wo Jeremy in einem Nest aus Moos sitzen sollte, das ich zusammengetragen hatte, damit er weich genug liegt, steht ein Grill. Mein Verstand will nicht glauben, was meine Augen sehen. Aber schon längst habe ich bemerkt, dass auch der andere Glasrahmen, der das Foto halten sollte, auf dem mein Bruder in wilder Piraterie einen Plastiksäbel über unseren Köpfen schwingt und wir alle so tun, als würde er uns gleich erdolchen, einem anderen gewichen ist. Es zeigt eine Aufnahme von mir und dem Hund, den ich eben aus dem Zimmer gejagt habe. Das Bild ist mit einem Herz verziert, neben dem »Buffy« steht.
    Du meine Güte! Das kann doch nicht … Wie? Ich weiß, Jeremy existiert, Millionen Dinge verbinde ich mit ihm. Kein Beweis dafür. Nirgends! Warum erinnert sich denn niemand?
    Vielleicht bin ich verrückt geworden! Vielleicht ist das gar nicht mein Leben. Ich muss fantasieren, aber alles fühlt sich so echt an. Hilfe! Ich öffne den Mund, ein stummer Schrei. Jeremy … Jeremy! Benommen stolpere ich zu dem Fenster, lehne mich weit hinaus. »Jeremy! Je-re-miiiiiiiiie! Antworte doch! Bitte komm wieder!« Plötzlich zieht sich mein Magen zusammen. Ich würge, falle auf die Knie, alles dreht sich! Schwallartig breche ich die Pancakes aus. Meine Handfläche brennt wie Feuer. Wieder muss ich würgen, bittere Galle. Ich höre gerade noch, wie Dad ins Zimmer gestürmt kommt, brüllt: »Susan! Ruf einen Arzt! Schnell!«
    Wieso brennt meine Hand? Wieso … wieso … Mein Leben versinkt in Dunkelheit.

Irgendwann - irgendwo
    Jemand streichelt meine Hand. Anscheinend bin ich bei Bewusstsein … Ich versuche, die Augen zu öffnen. Nicht möglich … Leise Stimmen dringen zu mir durch, Wortfetzen verfangen sich in meinem vernebelten Hirn. »Puls optimal …«, »Anzeige läuft …«, »kann bald aktiviert werden …«, »Impuls zum Aufwachen geben …«, »Stopp! Neuronale Werte noch nicht stabil …«
    Ich muss im Krankenhaus sein! Mum steht neben mir und massiert meine Hand, ihre Berührung tut gut, alles ist in Ordnung. Müde …
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