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Morgen ist der Tag nach gestern

Morgen ist der Tag nach gestern

Titel: Morgen ist der Tag nach gestern
Autoren: Mechtild Borrmann
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strickt und den Tönen der Welt ihre Schärfe nimmt. Weiße, weite Stille. Ein Gedankenspiel. Bilder, die dem Vergessen standhalten, aber keine Erinnerung mehr sind. Unbewohnte Gebiete.
    Daniel ist schon wieder unterwegs. Simon schläft noch.
    Er ist auf dem Hof, auf dem Weg zurück ins Büro, als ein roter Mitsubishi auf das Gelände fährt und auf einem der LKW-Stellplätze hält.
    Zwei Männer kommen auf ihn zu. Der ältere der beiden reicht ihm die Hand.
    „Kripo Kleve. Mein Name ist Böhm. Das ist mein Kollege van Oss. Herr Wessel?“
    Er hat sie nicht erwartet! Er ist nicht erstaunt.
    Er nickt.
    Böhm sieht sich um. Sein Blick wandert zur Zapfsäule. Ein schwerer Landrover steht vor einer der Hallen. Er hatte mit Lohmeier telefoniert und vor einer halben Stunde Frau Sastani erreicht. Sie hatte Wessel das Kennzeichen des roten Mazdas genannt.
    „Herr Wessel, können wir irgendwo in Ruhe miteinander reden?“
    Wessel geht vor, führt die beiden ins Büro. Während er den Platz überquert, schüttelt er den Kopf. Sie stören das gleichmäßige, immer langsamer werdende Kreisen seiner Zeit. Das Auspendeln.
    Böhm und van Oss setzen sich auf das schwarze Ledersofa. Er zieht den Schreibtischsessel hinüber und nimmt ihnen gegenüber Platz.
    „Herr Wessel. Wir haben heute Morgen eine Kinderleiche gefunden. Wir müssen davon ausgehen, dass es sich dabei um Ihre Tochter handelt.“ Warum sagt er
eine
? Warum sagt er nicht, dass es mehrere sind? Warum kann er das nicht aussprechen? Wir müssen davon ausgehen … Warum sagt er das? Zech hat Zeit und Ort genannt. „Laila“, hatte er gesagt. Der Name habe ihm besonders gut gefallen. Er hatte gesagt: Das deutsche Mädchen habe Miriam geheißen. Das hätte nicht so schön geklungen und darum hätte er sie auch nicht so lange behalten.
    Wessel starrt vor sich hin.
    Die Nachricht hat ihn erreicht, da ist Böhm sicher.
    Auf dem Couchtisch stehen noch die Pappschachteln und die Tüten der Mahlzeit, die Simon gestern Nachmittag mitgebracht hatte.
    Sie haben Miriam gefunden. Sie ist da. Sie ist tot da.
    Er hebt den Kopf.
    „Kann ich sie sehen? Kann ich sie beerdigen?“
    Böhm und Joop wechseln einen kurzen Blick. Wessel hat zum ersten Mal einen ganzen Satz gesprochen.
    Seine Augen haben einen Punkt über dem Sofa fixiert. Einen Punkt, der weit hinter diesem Raum liegt. Die Worte fallen stumpf aus ihm heraus, ohne Resonanz. Die Finger ineinander verflochten, liegen seine Hände im Schoß.
    „Es wird noch ein paar Tage dauern, aber dann können Sie sie beerdigen.“
    Wessel nickt. „Danke.“ Und auch dieses Wort fällt zu Boden und zerbricht.
    Sie haben sie gefunden. Sie haben sie bei Horstmann gefunden. Er will nicht wissen, wo genau. Er will nicht wissen, wie sie gestorben ist. Für einen Augenblick spürt er Angst. Angst, sie könnten es einfach sagen.
    Er will sie sehen. Und dann will er sie beerdigen.
    Er spürt, dass er die Information nicht im Kopf behalten kann, dass sie in ihn hineintropft und seine Atemzüge verkürzt.
    Joop beugt sich unruhig vor. Er berührt Wessel vorsichtig am Arm. „Mynheer Wessel? Sind Sie da?“
    Wessel sieht ihn einen Augenblick erstaunt an.
    „Ja.“ Dann wandern seine Augen wieder zurück zu dem Punkt in der Ferne.
    „Sagen Ihnen die Namen Horstmann und Grefft etwas, Herr Wessel?“ Böhm hat seine Frage mit ruhiger Stimme vorgetragen, und doch erscheint es ihm wie ein Rufen. So, als könne er den Mann in diesem Zimmer nicht erreichen. So, als müsse er ihn an diesem Punkt jenseits der Wand begegnen.
    Wieder dieses „Ja“. Geflüstert liegt es im Raum. Sie waren die Mörder meiner Tochter, könnte er noch sagen. Ich habe sie getötet, könnte er sagen. Aber die Gedanken sind dünn und ohne Bedeutung. Er muss nicht davon reden.
    „Lassen Sie mich meine Tochter beerdigen. Dann gehe ich ins Gefängnis.“
    Böhm schließt die Augen. Hat er wirklich für einen Augenblick gehofft, es könne eine andere Erklärung geben?
    Joop sagt es mit freundlicher Stimme und erstaunlicher Härte.
    „Mynheer Wessel. Horstmann hatte weder mit dem Verschwinden noch mit dem Tod ihrer Tochter etwas zu tun. Die Täter haben sein Haus benutzt. Sie haben den Falschen getötet.“
    Sie haben den Falschen getötet. Wessels Blick kehrt in den Raum zurück. Er betrachtet die Pappschachteln auf dem Tisch. Er erinnert sich an jene Nacht. Horstmanns Leugnen. Ich habe diesen Mann noch nie zuvor gesehen, hatte er behauptet, und dabei auf Grefft gezeigt. Was geht
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