Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mordsmöwen

Mordsmöwen

Titel: Mordsmöwen
Autoren: Sine Beerwald
Vom Netzwerk:
Nur hier auf Sylt haben wir noch gut lachen.
    Auf Sylt ist eben alles immer ein bisschen anders. Und eine echte Sylter Möwe zu sein, ist sowieso etwas Besonderes. Warum? Ja, das weiß ich auch nicht so genau. Aber wenn ich einer Möwe auf dem Festland erzähle, dass ich von Sylt komme, bin ich binnen Sekunden von flügelschlagenden, neugierigen Artgenossen umringt. Jede Möwe kennt diese bunte Welt auf einhundert Quadratkilometern oder hat wenigstens davon gehört. Die Weibchen hängen bei jedem Wort an meinem Schnabel, und die Männchen fragen mich direkt, wo denn im Revier kurzfristig noch etwas frei wäre. Wenn mir dann vor Erstaunen der Schnabel offen stehen bleibt, schieben sie noch schnell hinterher, dass es ja wirklich nur für ein paar Tage wäre. Anreise aber bitte nicht am Wochenende, weil da immer so viel Luftverkehr herrscht.
    Ja, haben die denn noch alle Federn am Flügel? Kurzfristig? Ein paar Tage? Auf Sylt! Ich muss nach Luft schnappen. Mein Gegenüber tut dasselbe, wenn ich ihm erkläre, dass er genau richtig in der Zeit liegt – sofern er für nächstes Jahr buchen will. Alle wollen nach Sylt. Auf die Insel der schönen und reichen Möwen.
    Was für ein Klischee. Dabei bedeutet es nur, dass es jemand wie unser Scheff Baron Silver de Luft in den siebenundzwanzig Jahren seines Lebens nicht geschafft hat, sich vom Acker zu machen. Die Möwen in den Metropolen beneidet doch auch keiner, weil sie seit zwanzig Jahren auf dieselbe Stelle scheißen. Auf Sylt ist das ein Privileg.
    Unser Scheff ist unser Scheff, weil er die Gnade einer Sylter Geburt erfahren durfte. Das allein vergoldet seinen Stammbaum und gibt ihm das Recht, unser Anführer zu sein, obwohl er längst in Rente sein müsste. Doch noch befehligt er eine Truppe von scheinbar Untergebenen (ich hoffe, er ist kurzsichtig genug, das hier nicht mehr lesen zu können) und trägt zum Zeichen dessen den Helm seines Großvaters, der Hauptfischwebel im zweiten Möwenkrieg war. Dass es sich bei diesem Erbstück um eine rostige Thunfischdose handeln könnte, ist nur unsere unausgesprochene Meinung.
    In der Rangfolge stehen wir jedenfalls allein deshalb unter ihm, weil wir von außerhalb kommen, auch wenn manche, so wie Harry, schon seit einundzwanzig Jahren hier leben. Alles, was vom Festland kommt, wird grundsätzlich mit Argwohn betrachtet. Weil alles Schlechte von dort kommt: Füchse, Ratten, Gewitter und Kopfschmerzen.
    Ja, was? Denken Sie, eine Möwe bekommt bei Ostwind keine Migräne? Schon mal darüber nachgedacht, warum wir oft scheinbar grundlos schreiend irgendwo rumsitzen? Weil es für Möwen verdammt noch mal keine Schmerztabletten gibt! Und hören Sie auf zu lachen, das ist nicht lustig. Wenn hier einer lacht, dann sind wir das.
    Doch heute Morgen bleibt selbst uns Möwen das Lachen im Hals stecken. Der Crêpes-Stand macht nicht auf. Seit zehn Jahren ist die Bude sieben Tage die Woche ab neun Uhr morgens auf. Heute nicht.
    Locker bleiben, denken wir uns. Vielleicht hat unser Mensch-Knut einfach nur verpennt?
    Zwei Stunden später beschließen wir, nach Westerland zu fliegen und ihn mit ordentlichem Geschrei vor dem Haus zu wecken. Luftlinie zehn Minuten.
    In Formation umfliegen wir das steinerne weiße Segel der Hörnumer Kirche, Baron Silver de Luft vorneweg. Unser neunmalkluger Balthasar fliegt auf halber Höhe neben ihm, um den kurzsichtigen Scheff notfalls dezent auf Gegenverkehr hinzuweisen. Das sind wir schon gewohnt, aber heute kriegt Balthasar den Schnabel gar nicht mehr zu, weil er dem Scheff begeistert den Unterschied zwischen schnellster und kürzester Route erklärt.
    Seit gestern Abend fliegt Balthasar nur noch nach Navi. Auf einer Insel, auf der es eine Hauptstraße von Nord nach Süd und eine von Ost nach West gibt. Das internetfähige Handy hat er samt Ladekabel bei Sonnenuntergang in einem liegen gebliebenen Rucksack gefunden. Seither trägt er das Ding unterm Flügel und ist die glücklichste Möwe auf der ganzen Welt. Zuvor saß er monatelang neidvoll auf Strandkorbdächern und hat die Touris beobachtet, wie sie mit den Dingern umgehen. Jetzt hat er selbst so ein smartes Telefon, und die Bedienversuche halten ihn vom Fliegen ab.
    Auf der Westseite sind die glitzernden Wellen der Nordsee zu sehen und keine zwei Flügelschläge jenseits der Dünen und der dunkelgrünen Heide das Wattenmeer, das sein üppiges Nahrungsangebot an Wattwürmern, Muscheln und Algen alle sechs Stunden feilbietet. Darüber machen sich die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher