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Mordsmöwen

Mordsmöwen

Titel: Mordsmöwen
Autoren: Sine Beerwald
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Marmelade!«
    Ich schnappe nach Luft und höre Balthasar rufen: »Eine Schande ist das. Wie viele Vögel dafür wieder ihre Federn lassen mussten! Da muss doch etwas getan werden. Aufklärungsarbeit, am besten Flugzettel!«
    Ich strafe Grey noch schnell mit einem missbilligenden Blick und gehe in das Vogelnest, von wo die Stimme kommt.
    Dort trampelt Balthasar über das Kopfkissen und hält weiter seinen Vortrag über aussterbendes Federvieh.
    Ich interessiere mich allerdings mehr für das Papier mit der Menschenschrift drauf, das da mitten auf der Bettdecke liegt. »Balthasar, führ dich nicht auf wie ein Rohrspatz. Sag mir lieber, was auf dem Zettel steht. Kannst du das lesen?«
    Balthasar schaut drein, als hätte ich ihn gefragt, ob das Meer blau sei, lässt sich dann aber doch dazu herab näherzutreten. Er zieht seine runde Brille unterm Flügel hervor und setzt sie auf. »Das ist echte Menschenschrift, ziemlich schwer zu lesen. Aber wozu habe ich vier Silvester an der Unität studiert? Das kriege ich hin.« Er plustert sich auf und beugt sich über den Text.
    Balthasar kann alles lesen. Auch wenn ich ihm das mit der Universität nicht abnehme. Ich denke, das Lesen hat er sich vom Strandkorbdach aus beigebracht. Er freut sich über jede Zeitung, die die Menschen im Strandkorb liegen lassen, und ein Buch hat er in null Komma nix durch. Sein neuester Traum ist es, endlich herauszufinden, wie man in die Bibliothek in Westerland einbrechen kann. Sei’s drum, Hauptsache, er kann lesen.
    »›Abschiedsbrief‹ ist das erste Wort«, sagt Balthasar.
    Mir stellen sich die Nackenfedern auf. »Ach, du heilige Möwenscheiße. Lies weiter.«
    Liebe Eva, liebe Mutter, lieber Sönke,
    ihr braucht mich nicht zu suchen. Wenn ihr diese Zeilen lest, werde ich schon gegangen sein – für immer. Das Meer wird mich in seine Arme schließen, es gibt auf dieser verfluchten Insel ja nicht einmal einen Baum, an dem ich mich aufhängen könnte. Bitte verzeiht mir diesen Schritt, aber ich kann nicht mehr. Mama, du warst für mich die beste Mutter der Welt, ich habe dich geliebt und mich immer gern um dich gekümmert. Als bei dir vor drei Wochen dieser aggressive Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert wurde, war ich schwer geschockt, aber es ändert nichts an meiner Entscheidung. Es ist mir vielmehr eine große Beruhigung, dass du mit der Trauer um deinen Sohn nicht mehr lange wirst leben müssen und wir uns in zwei, drei Monaten im Himmel wiedersehen werden. Ich wünsche dir, dass du in Frieden und ohne Schmerzen aus der Welt gehen kannst, wenn es so weit sein wird. Mein Bruder wird einen schönen Grabstein für dich aussuchen, und außerdem wird Sönke dein Grab jeden Sonntag besuchen und die hübschen Blumen darauf gießen.
    Meine geliebte Eva, wir haben viele schöne gemeinsame Jahre miteinander verbracht, aber am Ende haben wir uns nur noch gestritten, denn du hattest ganz andere Vorstellungen vom Leben. Du wolltest immer ein großes, eigenes Haus haben, was mir für mein Lebensglück nie wichtig war. Ich habe mich in dieser Zwei-Zimmer-Wohnung wohlgefühlt, während sie dir nur wie ein teures Erdloch vorkam. Aber die Mieten sind auf dieser Insel nun einmal sehr hoch, und wir hätten uns gar nichts anderes leisten können. Vor allem, weil diese kriminelle Möwenbande mir meine Geschäfte am Crêpes-Stand mehr und mehr ruiniert. Die Leute haben sich in den letzten Wochen schon gar nicht mehr zu mir an den Stand getraut, sondern sind lieber zu meinem größten Konkurrenten, dem Pizzabäcker, gegangen. Trauert nicht zu sehr um mich, niemand von euch ist schuld daran, dass ich mir das Leben genommen habe. Es war meine Entscheidung. Die Möwen haben das Fass zum Überlaufen gebracht.
    Euer Knut
    Wir schauen uns an, rufen Suzette und Jonathan herbei und fliegen in halsbrecherischem Tempo zurück in die Stadt. Fernab der Strandpromenade landen wir am Wilhelmine-Brunnen, wo der Rest der Bande im flachen Wasser watet und sich die Füße kühlt.
    Durcheinanderschreiend erzählen wir, wie es uns ergangen ist und was Balthasar uns vorgelesen hat. Derweil werden wir von Touristen fotografiert, die eigentlich die Brunnenfigur auf dem Bild haben wollen, jene pausbäckige steinerne Menschenfrau in Badekleidung, die so aussieht, als würde sie den ganzen Tag nur essen. Der blanke Hohn für uns – ohne Frühstück und angesichts unserer misslichen Lage.
    Nach unserem Schnatterschwall sitzen wir stumm da, und jeder starrt in eine andere Richtung.
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