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Mord

Mord

Titel: Mord
Autoren: Hans-Ludwig Kröber
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begrenzte.
    Sein kleiner kugeliger Nebenmann auf dem Fensterplatz fragte um Erlaubnis und stieg dann auf Alexanders Sitz, die Füße rechts und links von seinen Beinen auf dem Polster, um etwas aus dem Gepäckfach zu nehmen. Alexander hatte die Oberschenkel direkt vorm Gesicht und drehte den Kopf etwas beiseite, aber da stieg der Mann auch schon wieder herunter.
    Der Bus fuhr gleichmäßig durch die weiße Winterlandschaft, nicht alle Plätze waren besetzt, man konnte hierhin und dorthin wechseln, neue Gruppen bildeten sich. Die lauten und aufgeregten Stimmen in der ersten Zeit nach dem Start hatten sich gelegt und hoben nur noch an, als der Bus in zwei weiteren Städten hielt, um Fahrgäste aufzunehmen. An Bord gab es eine Bus-Stewardess mit einem kecken Käppi und roten Fingernägeln, die sich um alle kümmerte und Alexander ein Kissen und eine Papiertüte für die Schalen der Sonnenblumenkerne brachte, die er zerbiss. Das war das Einzige, was er aß, trotz der Vorräte, sein Kopf tat ihm weh und der Magen. Dafür rauchte er sehr viel, auch die anderen hier im hinteren Teil des Busses. Alexander kannte keinen der Leute, aber er fühlte sich nicht fremd; alle sprachen die gleiche Sprache, und man konnte nicht unterscheiden, wer deutscher und wer russischer Herkunft war.
    Er war müde und müde und müde, aber er war so müde, dass er partout nicht einschlafen konnte. Manchmal nickte er für Sekundenbruchteile ein, fuhr dann aber sofort hoch, als sei ihm das Herz stehengeblieben. Zu Hause hatte er bisweilen im Schlaf geschrien, wurde von seiner Frau geweckt und konnte eine Weile nicht sagen, ob es Traum oder Wirklichkeit war. Jetzt im Bus dachte er wieder an seine Frau und die Kinder, dachte an die bevorstehende Begegnung mit seinem ältesten Bruder und seiner Mutter und ob es überhaupt klappen würde. Er verstand es nicht, aber er war sehr betrübt.
    Zwei Tage lang hockte er auf seinem Platz. Wenn der Busfahrer Pause machte, stieg er aus und rauchte draußen, im Stehen, lief auf der Stelle etwas auf und ab. Es wurde wärmer. Aber abgesehen von dem Nötigsten, was man aus Höflichkeit sagen musste, sprach er mit niemandem und blieb immer auf demselben Platz sitzen, neben dem Gang. Dauernd hatte er ein Geräusch in den Ohren, auch wenn der Bus anhielt und der Dieselmotor ausging. Und irgendwie fühlte er sich wie betrunken, obwohl er erst am zweiten Tag bei einem Halt in Weißrussland zwei Dosen Bier kaufte und viele Stunden später noch mal in Polen.
    Die erste Nacht war vorbeigegangen, der zweite Tag, sie hatten die Armbanduhren umgestellt, und früh war es wieder dunkel geworden. Die zweite Nacht war besonders schlimm. Er konnte den ständigen Wechsel zwischen hell und dunkel kaum ertragen, sie kamen jetzt häufiger durch besiedeltes Gebiet, fuhren durch Dörfer, Städte, er sah Straßenlaternen, beleuchtete Fenster, Tankstellen.
    Sie näherten sich Brest, der weißrussischen Grenze nach Polen, über 3000  Kilometer lagen schon hinter ihnen. Alexander fragte einen Mitreisenden, wo sich der Bus befand, und merkte, dass er gar nicht sprechen konnte, dass seine Stimme ganz fern klang und nachhallte. Als sie über die hell erleuchtete Grenze fuhren, war in seinen Ohren ein Dauerklingeln. Er wusste, dass es nicht draußen klingelte, sondern in seinen Ohren.
    Beim Grenzübertritt war er sehr aufgeregt, sie mussten alle aussteigen und durch einen langgestreckten Flachdachbau an einer Ausweiskontrolle vorbei, während die Zöllner den Bus kontrollierten. Als er in der Reihe stand, merkte er, dass mit seinen Papieren etwas nicht stimmte, die Farbe seines Passes hatte sich verändert, und wenn er ihn nach unten hielt, vibrierte der Pass. Er trat aus der Reihe heraus, ging an eine hellere Stelle und kontrollierte den Ausweis, aber jetzt war er wieder in Ordnung. Er stellte sich wieder an, und der Ablauf wiederholte sich: Der Pass war gefälscht, er musste mit einem gefälschten Pass reisen! Nochmals stellte er sich hinten an, er hatte nun keine Wahl mehr, er war der letzte Passagier dieses Busses. Bebend hielt er dem Zollbeamten den Ausweis hin, mühte sich, nicht zu zittern. Der sah ihn unter seiner Schirmmütze prüfend an, länger als gewöhnlich. Alexander konnte gar nichts mehr denken, auch nicht an polnische Kerker, dann hörte er das klackende Stempelgeräusch, der Mann streckte ihm den Pass entgegen und sagte etwas auf Polnisch. Mit einem ängstlichen Blick zurück ging er wieder zum Bus, stieg ein, er war der
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