Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mord

Mord

Titel: Mord
Autoren: Hans-Ludwig Kröber
Vom Netzwerk:
Chef, aber der Chef sagte, dass er dann wieder degradiert würde.
    Dieser Mann sagte später bei der Polizei: «Er wirkte wie ein Kranker, er schaute so komisch. Er sagte immer wieder, dass jemand seinen Bruder in Deutschland umbringen werde. Immer wieder einmal sagte der Mann, dass er nicht angefasst werden will, sonst bringt er denjenigen um. Ich weiß nicht, er schien vor etwas Angst zu haben.»
    Ein Mann, der zwei Reihen vor Alexander saß, berichtete, dieser habe geschrien, dass jemand sein Geld wegnehmen wolle. Dass die Deutschen seinen Bruder umbringen wollten. Dass er die, die sein Geld wegnehmen wollten, abknallen würde. «Er sprang auf einmal gegen die Scheibe und war sofort wieder ruhig. Er bemerkte noch, dass er jetzt Kopfschmerzen habe. Zuerst hatten wir alle Mitleid mit ihm, als er zunächst nur Angst zeigte. Als er mit dem Kopf an die Scheibe gestoßen ist, war er dann ganz aggressiv. Er sagte zwischendurch: Bitte, bitte, schlagt mich nicht zusammen, sonst werde ich euch alle umbringen.»
    Noch ein anderer Fahrgast erzählte, er habe nach seiner Mutter geschrien, schon ziemlich zu Anfang, wo er komisch wurde, und dann wieder kurz vor der Grenze.
    Dann waren sie an der Grenze, und es kam in kürzester Zeit zur Katastrophe. Die Temperatur lag über null, alles triefte vor Nässe, der Bus hatte angehalten und stand im Licht der vielen hellen Lampen, die hoch an den Masten angebracht waren. Von innen war die Umgebung nur undeutlich zu sehen, die Fenster waren beschlagen und durch den außen herabrinnenden Nieselregen verschliert. Alexander glaubte, durch die Scheibe einen PKW zu erkennen und daneben einen Mann, das Gesicht seines Bruders. Wo war seine Mutter?
    Als die zwei Zollbeamten in ihren blauen Uniformen den Bus zur Kontrolle bestiegen, verließ er seinen Platz und lief nach vorne, rief: «Mama, Mama!», immer wieder. Er stieß fast mit dem ersten Zöllner zusammen, wurde aber von Reisenden festgehalten und wieder zurückgeschickt auf seinen Platz: «Jetzt ist Kontrolle, du musst auf deinem Platz sitzen bleiben, bis die Kontrolle vorbei ist.»
    Er setzte sich, wippte aber immer ein bisschen, als wollte er doch wieder aufspringen. Die Zollbeamten kontrollierten Sitzreihe für Sitzreihe, alle Ablagen, die Gepäckfächer, und stiegen auf die Sitze, um auch die Räume hinter den Lüftungsklappen zu prüfen, die für Gepäck nicht vorgesehen waren.
    In Alexanders Reihe angekommen, stieg der eine Beamte neben ihm auf den Sitz. An seinem Gürtel waren mehrere Lederschlaufen mit Geräten, direkt vor Alexanders Gesicht baumelte das Halfter mit der schweren Pistole. Alexander ergriff die Waffe, entsicherte, schoss auf diesen Uniformierten, auf den anderen, tötete beide, schoss weiter in den Bus hinein. Dann zerschlug er mit der Pistole die Fensterscheibe und hangelte sich aus dem Bus, mit der Pistole in der linken Hand. Draußen wurde sie ihm aus der Hand geschlagen, er wurde zu Boden gebracht und überwältigt. Er blutete aus einigen Schnittwunden und schloss die Augen.
     
    Als er wieder zu Sinnen kam, lag Alexander allein in einem kleinen, weißen Zimmer im Haftkrankenhaus Meusdorf bei Leipzig. Er war aber fest davon überzeugt, in Kasachstan zu sein nach einer Schießerei mit uniformiert auftretenden Banditen an der Busstation Iljenko; dahin sei der Bus zurückgefahren. Die Psychiaterin sprach Russisch mit Alexander, wenn auch mit deutschem Akzent, und ein Gutachter, der bemüht wurde, ebenfalls. Männer, die zur Täuschung korrekt in Blau gekleidet waren, seien von «der Gruppe» beauftragt gewesen, ihn zu töten. Die Gruppe habe vorgehabt, seine Frau und seine Tochter zu vergewaltigen. All das trug er wie reglos vor, er war ganz starr.
    Alexander wurde mit antipsychotischen Medikamenten behandelt. Nach vier Wochen war die Krankheit abgeklungen, und er musste sich der Wahrheit stellen – dass er zwei deutsche Zollbeamte erschossen und zwei Mitreisende schwer verletzt hatte. Es war wie eine fremdartige Botschaft, die er glauben musste, die er aber in keinem Moment mit seiner Erinnerung in Einklang bringen konnte. Doch es war gewiss: Zum Elend hatte sich eine Katastrophe gesellt, und er war völlig ratlos, wie es weitergehen sollte. Es musste ohne ihn weitergehen, er blieb ja eingesperrt.
    Der Gutachter, der aus Russland stammte, erklärte, dass Alexander Witte zum Zeitpunkt der Tat an einer psychotischen Störung gelitten habe und schuldunfähig gewesen sei; alle Zeugen aus dem Bus hatten einhellig
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher