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Mord

Mord

Titel: Mord
Autoren: Hans-Ludwig Kröber
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in der HJ gewesen waren, und auch einige ältere Huren, die noch in den Bombennächten ihrer Arbeit nachgegangen waren. Es ging aber Fritz und manch anderem nicht um Zuhälterei, sondern die Halbstarken trafen sich, überlegten Einbrüche und andere Beutezüge und kloppten sich mit rivalisierenden Banden und den Tommys. Fritz hatte schon damals Überbreite, was aber nur daran lag, dass er etwas klein war, er hatte halt so eine Gewichtheberfigur. Wenn es losging und man die Straße entlanglief, um sich mit den Tommys zu kloppen, hieß es: «Dicker, geh du voran!» Ihm machte das nichts aus, er hatte keine Angst, und merkwürdigerweise musste er selbst auch nicht zuschlagen, die anderen blieben auf Distanz. Nur zweimal, erzählte er, habe er wirklich zugeschlagen; weil er es wollte.
    Die Jungs vom Stutti gehörten zu jener nützlichen, vielgestaltigen Fauna der Nachkriegsjahre, die aus der Trümmerlandschaft Berlins alles herausholte, was noch zu verwerten war, sachliche und menschliche Ressourcen, auf dass man den Rest abräumen konnte, der dann aber noch lange liegen blieb. Er gehörte zu den Jungs, die mit elf zu rauchen begannen und die Hände nicht aus den Hosentaschen nahmen, wenn sie mit Erwachsenen redeten, sondern mit schrägem Kopf und skeptischem Blick zu ihnen hochschauten und freche Antworten gaben. Etwa in den drei Kategorien «Weeß ick selba», «Gloob ick nich», «Mach ick nich».
    Anders als die meisten anderen stammte Fritz nicht aus einem Arbeiterbezirk Berlins, sondern aus der preußischen Provinz Sachsen. Er war ein gutes Jahr nach Kriegsbeginn in einer Kleinstadt an der Elbe geboren worden. Sein Vater, von Beruf technischer Kaufmann, wurde bald danach an der Ostfront in Russland vermisst und später für tot erklärt, er hat ihn nie gesehen.
    Warum die Eltern, bei Kriegsausbruch 34 und 35  Jahre alt, sich für ein drittes Kind entschieden, wusste Fritz’ Mutter nicht. Sie war Bilanzbuchhalterin und musste mit ihrer Arbeit auch seine neun und fünf Jahre älteren Schwestern Hannelore und Ingrid versorgen. Nach dem Krieg lag das Städtchen in der Sowjetischen Besatzungszone. 1947 kam Fritz auf die Schule, 1949 verschwand die Mutter plötzlich mit der Zweitältesten, Ingrid, nach West-Berlin. Man hatte ihm vorher nichts erzählt, wohl um das Unternehmen nicht zu gefährden. Der Junge wurde zum Opa in Zeitz gegeben, die älteste Schwester war schon in der Lehre.
    Dass er zurückgelassen wurde, empfand Fritz als Verrat. Er hatte herausgefunden, erzählte er mir, dass seine Mutter wegen des kleinen Mädchens in den Westen gegangen sei, das auf dem Holzplatz umgekommen war, durch den Balken, der herunterkam. Er war da gerade mal acht gewesen und hatte das miterlebt. Zwei Monate später sei sie mit seiner kleinen Schwester nach Berlin. Er musste beim Opa bleiben, hat fürchterlich geheult, sich verraten und verkauft gefühlt. Nach einem dreiviertel Jahr kam der Rat des Kreises zum Opa: Er könne das Kind nicht erziehen, das komme in ein Heim. Daraufhin hat ihn die Tante nach Berlin gebracht, seine Mutter war nicht begeistert.
    Die Mutter, sagte Fritz, hatte immer behauptet, sie sei aus politischen Gründen nach West-Berlin gegangen. Aber heute wisse er: Sie sollte am Arsch gekriegt werden wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht, dass der Balken da so nicht liegen durfte, der das Mädchen erschlagen hat. Auf dem Totenbett hatte sie ihm gesagt, es täte ihr leid, dass alles so schiefgelaufen sei. An ihrem Grab hatte er sich gefühlt wie gegenüber einem fremden Menschen. Er glaube ohnehin: Seine besondere Geschichte fing damit an, dass er den Tod dieses Mädchens miterlebt hatte. Und später noch das Kind, das beim Verkehrsunfall starb. Und auch das, was er in Katanga gesehen hatte, wie ganze Dörfer niedergemacht wurden. Der Tod, immer wieder. Aber ich will der Reihe nach erzählen.
     
    Fritz’ Mutter hatte in Berlin sofort Arbeit gefunden und schaffte ununterbrochen bis zur Rente als Buchhalterin und als Prokuristin. Die Familie bezog zudem eine Hinterbliebenenrente, also gab es keine finanziellen Probleme, und die drei konnten nach wenigen Jahren in eine Zweieinhalb-Zimmer-Neubauwohnung in Mariendorf ziehen. Mariendorf – das war Zukunftsindustrie, ehrliche Arbeit. Fritz hatte ein eigenes Zimmer, besuchte die «Oberschule praktischen Zweiges» und war viel sich selbst überlassen. Die Mutter entschädigte ihn für ihre Abwesenheit mit reichlich Taschengeld und williger Wunscherfüllung.
    Als
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