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Mord im Orientexpress

Mord im Orientexpress

Titel: Mord im Orientexpress
Autoren: Agatha Christie
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die sich ihren Lebensunterhalt verdienen will, muss auf Diskretion achten.
    Sein Blick wanderte weiter zur anderen Seite. Am fernen Ende, gleich bei der Wand, saß eine schwarz gekleidete Frau mittleren Alters mit breitem, ausdruckslosem Gesicht. Deutsche oder Skandinavierin, dachte er. Wahrscheinlich die deutsche Zofe.
    Ihr zunächst saßen ein Mann und eine Frau, beide weit über den Tisch gelehnt und in angeregter Unterhaltung. Der Mann trug einen saloppen englischen Tweedanzug, aber er war kein Engländer. Obwohl Poirot nur seinen Hinterkopf sehen konnte, war dessen Form ebenso verräterisch wie die Schulterhaltung. Er war kräftig und gut gebaut. Als er plötzlich den Kopf wandte, sah Poirot sein Profil. Ein sehr gut aussehender Mann in den Dreißigern mit großem, blondem Schnurrbart.
    Die Frau ihm gegenüber war fast noch ein junges Mädchen – vielleicht um die zwanzig. Sie trug ein eng anliegendes schwarzes Kostüm, eine weiße Bluse und ein schickes schwarzes Hütchen, das sie nach der herrschenden Mode lächerlich schief auf dem Kopf sitzen hatte. Ihr schönes, fremdländisches Gesicht war schneeweiß, die großen Augen braun, die Haare pechschwarz. Sie rauchte eine Zigarette an einer langen Spitze. Ihre manikürten Fingernägel waren tiefrot. Sie trug einen großen, in Platin gefassten Smaragd. Ihr Blick war schelmisch, ihre Stimme kokett.
    «Elle est jolie – et chic», sagte Poirot leise. «Mann und Frau, ja?»
    Monsieur Bouc nickte.
    «Ungarische Botschaft, soviel ich weiß», sagte er. «Ein schönes Paar.»
    Sonst saßen nur noch zwei Leute beim Mittagessen – Poirots Abteilgenosse MacQueen und sein Arbeitgeber, Mr. Ratchett. Letzterer saß Poirot zugewandt, und zum zweiten Mal betrachtete der Detektiv diese wenig einnehmenden Züge, die falsche Gutmütigkeit der Stirn und die kleinen, grausamen Augen.
    Zweifellos erkannte Monsieur Bouc den veränderten Gesichtsausdruck seines Freundes.
    «Sehen Sie wieder Ihr wildes Tier?», fragte er.
    Poirot nickte.
    Als der Kaffee kam, erhob sich Monsieur Bouc. Er hatte vor Poirot mit dem Essen angefangen und war schon seit einiger Zeit damit fertig.
    «Ich gehe wieder in mein Abteil», sagte er. «Kommen Sie doch nachher auf ein Schwätzchen zu mir.»
    «Mit Vergnügen.»
    Poirot trank seinen Kaffee und bestellte noch einen Likör. Der Kellner ging mit seiner Geldkassette von Tisch zu Tisch, um zu kassieren. Die Stimme der älteren Amerikanerin erhob sich schrill und klagend.
    «Meine Tochter hat gesagt: ‹Kauf dir ein Heftchen Essensbons, und du hast keinerlei Schwierigkeiten.› Aber das ist ja nicht wahr. Immer kommen noch diese zehn Prozent Trinkgeld dazu, genauso diese Flasche Mineralwasser – und was für komisches Wasser! Evian oder Vichy hatten die nicht, und das finde ich schon komisch.»
    «Es ist wohl – die müssen – wie sagt man – Wasser von Land servieren», erklärte die Dame mit dem Schafsgesicht.
    «Also, ich finde es komisch.» Sie starrte angewidert auf das Häufchen Wechselgeld, das vor ihr auf dem Tisch lag. «Sehen Sie sich dieses Zeug an, das er mir herausgegeben hat. Dinare oder so. Wertloser Kram, wenn Sie mich fragen. Meine Tochter hat gesagt –»
    Mary Debenham schob ihren Stuhl zurück, nickte den beiden anderen kurz zu und ging. Colonel Arbuthnot stand ebenfalls auf und folgte ihr. Die Amerikanerin raffte ihr geschmähtes Wechselgeld zusammen und schloss sich an, nach ihr ging auch die Dame mit dem Schafsgesicht. Die beiden Ungarn waren schon fort. Im Speisewagen saßen jetzt nur noch Poirot, Ratchett und MacQueen.
    Ratchett sagte etwas zu seinem Begleiter, worauf dieser aufstand und den Speisewagen verließ. Dann erhob auch er sich, aber er folgte MacQueen nicht nach draußen, sondern setzte sich völlig unerwartet Poirot gegenüber.
    «Könnten Sie mir wohl Feuer geben?», fragte er. Seine Stimme klang leise, ein wenig näselnd. «Mein Name ist Ratchett.»
    Poirot deutete eine Verbeugung an. Er griff in die Tasche, nahm eine Schachtel Zündhölzer heraus und reichte sie seinem Gegenüber, der sie nahm, aber kein Zündholz anriss.
    «Ich glaube, ich habe das Vergnügen, mit Monsieur Hercule Poirot zu sprechen», sagte er. «Richtig?»
    Poirot neigte wieder den Kopf. «Man hat Sie richtig informiert, Monsieur.»
    Der Detektiv merkte sehr wohl, wie diese sonderbar verschlagenen Augen ihn von oben bis unten musterten, bevor der andere wieder sprach.
    «In meiner Heimat», sagte er, «kommen wir immer gleich zur Sache, Mr.
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