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Mord im Orientexpress

Mord im Orientexpress

Titel: Mord im Orientexpress
Autoren: Agatha Christie
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Tod.»
    «Trinken wir noch ein Glas Wein», sagte Monsieur Bouc und schenkte schnell nach. «Sie haben eine schlimme Phantasie, mon cher. Vielleicht kommt das von der Verdauung.»
    «Es ist wahr», räumte Poirot ein, «das Essen in Syrien war meinem Magen nicht so recht zuträglich.»
    Er trank einen Schluck Wein. Dann lehnte er sich zurück und blickte sich nachdenklich im Speisewagen um. Dreizehn Leute saßen da, und wie Monsieur Bouc gesagt hatte, waren es Menschen aller Klassen und Nationalitäten. Er sah sie sich genauer an.
    Am Tisch gegenüber saßen drei Männer. Sie waren seiner Einschätzung nach Alleinreisende, vom unfehlbaren Blick des Speisewagenpersonals als solche erkannt und an denselben Tisch verwiesen. Ein korpulenter, dunkelhäutiger Italiener stocherte genüsslich in seinen Zähnen. Ihm gegenüber saß ein hagerer, adretter Engländer mit dem ausdruckslos missbilligenden Gesicht des geschulten Dieners. Neben dem Engländer saß ein vierschrötiger Amerikaner in einem schreienden Anzug – möglicherweise ein Handlungsreisender.
    «Man muss da groß, einsteigen», verkündete er soeben laut und näselnd.
    Der Italiener nahm seinen Zahnstocher aus dem Mund und gestikulierte ungeniert damit herum.
    «Klar», meinte er. «Sag ich doch die ganze Zeit.»
    Der Engländer blickte aus dem Fenster und hüstelte.
    Poirots Blick wanderte weiter.
    An einem kleinen Tisch saß kerzengerade eine alte Dame, wie er sie hässlicher kaum je gesehen hatte. Es war allerdings eine Hässlichkeit von eigener Würde, die eher faszinierte als abstieß. Die Dame saß sehr aufrecht. An ihrem Hals hing ein Collier aus sehr großen Perlen, die aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz echt waren. Ihre Hände waren mit Ringen bedeckt. Sie hatte ihre Zobeljacke über den Schultern zurückgeschlagen. Ein sehr kleines, teures schwarzes Hütchen passte ausgesprochen schlecht zu dem gelblichen Krötengesicht darunter.
    Soeben sprach sie mit klarer Stimme, die höflich, aber befehlsgewohnt klang, zum Speisewagenkellner:
    «Haben Sie die Liebenswürdigkeit, mir eine Flasche Mineralwasser und ein großes Glas Orangensaft ins Abteil zu bringen. Und sorgen Sie dafür, dass ich heute zum Abendessen gedünstetes Hühnchen ohne Beilagen bekomme – und ein Stückchen gekochten Fisch.»
    Der Kellner versicherte ihr respektvoll, dass es so geschehen werde.
    Sie nickte gnädig, dann erhob sie sich. Dabei streifte ihr Blick ganz kurz Poirot, huschte aber mit aristokratischer Nonchalance sogleich über ihn hinweg.
    «Das ist die Fürstin Dragomiroff», sagte Monsieur Bouc leise. «Russin. Ihr Gatte hat vor der Revolution sein ganzes Geld flüssig gemacht und im Ausland angelegt. Sie ist steinreich. Eine Kosmopolitin.»
    Poirot nickte. Er hatte von der Fürstin Dragomiroff schon gehört.
    «Eine Persönlichkeit», sagte Monsieur Bouc. «Hässlich wie die Sünde, aber sie versteht Eindruck zu machen. Finden Sie nicht auch?»
    Poirot fand das auch.
    An einem der anderen großen Tische saß Mary Debenham mit noch zwei Frauen zusammen. Die eine, hoch gewachsen und mittleren Alters, trug eine karierte Bluse mit Tweedrock. Ihr volles, abgestumpftes blondes Haar war unvorteilhaft zu einem großen Knoten geschlungen; dazu hatte sie eine Brille auf, und ihr langes Gesicht hatte die Sanftmut und Liebenswürdigkeit eines Schafs. Sie hörte der Dritten zu, einer robusten älteren Frau mit freundlichem Gesicht, die einen langen Monolog herunterleierte und scheinbar weder Luft zu holen brauchte noch je ein Ende zu finden gedachte.
    «… und da sagte meine Tochter: ‹Hör mal›, sagte sie, ‹du kannst in diesem Land keine amerikanischen Sitten einführen. Faul zu sein liegt einfach in der Natur dieser Menschen›, sagte sie. ‹Sie haben es nun einmal nie eilig.› Und trotzdem, Sie würden staunen, wenn Sie sehen könnten, was unsere Schule dort zu Wege bringt. Die haben sehr gute Lehrer. Ich denke, es geht nichts über Bildung. Wir müssen unsere westlichen Ideale zur Geltung bringen und den Osten lehren, sie anzuerkennen. Meine Tochter sagt –»
    Der Zug fuhr in einen Tunnel ein. Die monotone Stimme wurde kurzerhand ertränkt.
    Am Tisch daneben, einem kleinen, saß Colonel Arbuthnot – allein. Sein Blick klebte an Mary Debenhams Hinterkopf. Sie saßen nicht zusammen. Dabei hätte sich das leicht so einrichten lassen. Warum?
    Vielleicht ziert sich Mary Debenham, dachte Poirot. Als Gouvernante weiß sie sich vorzusehen. Der Schein ist alles. Eine junge Frau,
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