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Mord im Orientexpress

Mord im Orientexpress

Titel: Mord im Orientexpress
Autoren: Agatha Christie
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gehört.»
    «Eh bien», sagte Lieutenant Dubosc rasch, als das Gespräch erneut zu stocken drohte. «Morgen Abend um neunzehn Uhr vierzig sind Sie jedenfalls in Konstantinopel.»
    «Ja», sagte Monsieur Poirot.
    «Die Hagia Sophia –», fuhr er verzweifelt fort, «ich habe gehört, sie soll sehr schön sein.»
    «Prachtvoll, soviel ich weiß.»
    Über ihren Köpfen wurde der Vorhang an einem der Schlafwagenfenster zur Seite geschoben, und eine junge Frau schaute heraus.
    Mary Debenham war kaum zum Schlafen gekommen, seit sie letzten Donnerstag von Bagdad abgefahren war. Weder auf der Fahrt nach Kirkuk noch im Rasthaus Mosul noch in der letzten Nacht im Zug hatte sie richtigen Schlaf gefunden. Jetzt war sie es leid, wach in ihrem überheizten Abteil zu liegen, weshalb sie aufgestanden war, um aus dem Fenster zu schauen.
    Das musste Aleppo sein. Natürlich gab es hier nichts zu sehen. Nur einen langen, schlecht beleuchteten Bahnsteig, auf dem irgendwo laut auf Arabisch gestritten wurde. Unter ihrem Fenster standen zwei Männer und unterhielten sich auf Französisch. Der eine war ein französischer Leutnant, der andere ein kleiner Mann mit gewaltigem Schnurrbart. Mary Debenham lächelte matt. Noch nie hatte sie eine derart vermummte Gestalt gesehen. Es musste sehr kalt sein da draußen. Deswegen heizten sie ja den Zug so grässlich. Sie versuchte das Fenster hinunterzuschieben, aber es ging nicht.
    Gerade war der Schlafwagenschaffner zu den beiden Männern getreten. Der Zug werde gleich abfahren, sagte er. Monsieur solle lieber einsteigen. Der kleine Mann nahm seinen Hut ab. Was da für ein Eierkopf zum Vorschein kam! Obwohl Mary Debenham ganz andere Sorgen hatte, musste sie lächeln. Wie albern der kleine Kerl doch aussah! Einer dieser kleinen Männer, die man nie richtig ernst nehmen konnte.
    Lieutenant Dubosc hielt seine Abschiedsrede, die er sich schon vorher zurechtgelegt und bis zur letzten Minute aufgespart hatte. Es war eine schöne, geschliffene Rede.
    Da konnte Monsieur Poirot natürlich nichts schuldig bleiben.
    «En voiture, Monsieur», rief der Schlafwagenschaffner.
    Mit allen Anzeichen größten Widerstrebens stieg Monsieur Poirot in den Zug, der Schlafwagenschaffner hinterdrein. Monsieur Poirot winkte. Lieutenant Dubosc salutierte. Und mit einem schauerlichen Ruck setzte der Zug sich langsam in Bewegung.
    «Enfin», murmelte Monsieur Hercule Poirot.
    «Brrr», machte Lieutenant Dubosc, der jetzt erst merkte, wie kalt ihm war.
    «Voilà, Monsieur.» Der Schaffner wies Poirot mit theatralischer Gebärde auf die ganze Schönheit seines Schlafabteils und das ordentlich verstaute Gepäck hin. «Monsieurs kleiner Koffer, er ist hier.»
    Seine ausgestreckte Hand sprach Bände, und Hercule Poirot drückte einen zusammengefalteten Geldschein hinein.
    «Merci, Monsieur.» Jetzt wurde der Schaffner ganz dienstlich. «Monsieurs Fahrkarten habe ich schon. Wenn es recht ist, nehme ich nun auch noch Monsieurs Pass an mich. Monsieur werden die Reise in Istanbul unterbrechen, soviel ich weiß?»
    Monsieur Poirot bejahte.
    «Es sind wohl nicht viele Leute im Zug?», fragte er.
    «Nein, Monsieur. Ich habe nur noch zwei weitere Fahrgäste. Einen englischen Oberst aus Indien und eine junge Engländerin aus Bagdad. Haben Monsieur noch einen Wunsch?»
    Monsieur bat um ein Fläschchen Perrier.
    Fünf Uhr früh ist eine unangenehme Zeit zum Verreisen. Es waren noch zwei Stunden bis zur Morgendämmerung. Im Bewusstsein seines zu kurz gekommenen Nachtschlafs sowie einer erfolgreich abgeschlossenen, sehr heiklen Mission kuschelte Poirot sich in eine Ecke und schlief ein.
    Als er aufwachte, war es schon halb zehn, und da ihm nach einer heißen Tasse Kaffee war, begab er sich in den Speisewagen.
    Dort saß zurzeit nur noch eine weitere Person, offenbar die Engländerin, die der Schaffner erwähnt hatte. Sie war groß, schlank und dunkelhaarig – vielleicht achtundzwanzig Jahre alt. Die kühle Selbstsicherheit, mit der sie ihr Frühstück verzehrte und beim Kellner einen Kaffee nachbestellte, verriet Weltgewandtheit und Reiseerfahrung. Sie trug ein dunkles Reisekostüm aus einem dünnen Stoff, der für die überheizte Atmosphäre in diesem Zug gerade richtig war.
    Da Monsieur Hercule Poirot nichts Besseres zu tun hatte, vertrieb er sich die Zeit damit, sie zu beobachten, ohne es sich anmerken zu lassen.
    Nach seinem Eindruck gehörte sie zu jener Sorte junger Frauen, die sich überall, wohin sie kamen, mit der größten
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