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Mord im Orientexpress

Mord im Orientexpress

Titel: Mord im Orientexpress
Autoren: Agatha Christie
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Selbstverständlichkeit bewegten. Sie wirkte ausgeglichen und tüchtig. Ihm gefiel die strenge Regelmäßigkeit ihrer Züge, die zarte Blässe ihrer Haut. Ihm gefielen auch die dunkelbraune, sanft gewellte Frisur und der kühle, unpersönliche Blick ihrer grauen Augen. Für seinen Geschmack war sie für eine jolie femme, wie er das nannte, nur ein ganz klein wenig zu selbstsicher.
    Kurz darauf kam noch jemand in den Speisewagen, diesmal ein hoch gewachsener Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren, hager, braungebrannt und an den Schläfen leicht angegraut.
    «Der Oberst aus Indien», sagte sich Poirot.
    Der Neuankömmling verneigte sich kurz vor der Dame.
    «Guten Morgen, Miss Debenham.»
    «Guten Morgen, Colonel Arbuthnot.»
    Der Oberst fasste nach dem Stuhl auf der anderen Tischseite. «Sie gestatten?»
    «Selbstverständlich. Bitte, nehmen Sie Platz.»
    «Aber Sie wissen, beim Frühstück sind die Leute nicht immer sehr gesprächig.»
    «Das hoffe ich. Aber ich beiße nicht.»
    Der Oberst setzte sich.
    «Boy!», rief er in gebieterischem Ton.
    Er bestellte Eier und Kaffee.
    Sein Blick streifte ganz kurz Hercule Poirot, wanderte aber uninteressiert weiter. Poirot, der die englische Seele verstand, wusste genau, dass er bei sich gesagt hatte: «Bloß wieder so ein komischer Ausländer.»
    Getreu ihrer Nationalität waren die beiden Engländer beim Frühstück alles andere als gesprächig. Sie wechselten nur die eine oder andere kurze Bemerkung, und schon wenig später erhob sich die Dame und kehrte zu ihrem Abteil zurück.
    Beim Mittagessen saßen die beiden wieder am selben Tisch, und wieder schenkten sie dem Fremden nicht die mindeste Beachtung. Ihre Unterhaltung war angeregter als beim Frühstück. Colonel Arbuthnot erzählte vom Pandschab und stellte der jungen Dame ein paar Fragen nach Bagdad, wo sie, wie sich herausstellte, als Gouvernante gearbeitet hatte. Im weiteren Verlauf des Gesprächs entdeckten sie ein paar gemeinsame Bekannte, worauf sie gleich freundlicher und lockerer wurden. Sie sprachen über den guten alten Tommy Dingsda oder den lieben Jerry Soundso. Der Oberst erkundigte sich, ob Miss Debenham bis England durchzufahren oder in Istanbul einen Zwischenaufenthalt einzulegen gedenke.
    «Nein, ich fahre gleich weiter.»
    «Ist das nicht ein bisschen schade?»
    «Ich bin vor zwei Jahren auf dem Hinweg dieselbe Strecke gefahren, und da habe ich mich drei Tage in Istanbul aufgehalten.»
    «Aha. Aber dann darf ich sagen, dass ich sehr erfreut bin. Ich fahre nämlich auch durch.»
    Er machte bei diesen Worten eine linkische kleine Verbeugung und wurde sogar ein bisschen rot.
    «Er ist empfänglich, unser Oberst», dachte Hercule Poirot amüsiert. «Eine Eisenbahnfahrt scheint doch ebenso gefährlich zu sein wie eine Schiffsreise.»
    Miss Debenham sagte gelassen, das sei ja nett. Sie gab sich nicht sehr entgegenkommend.
    Hercule Poirot beobachtete, dass der Oberst sie zu ihrem Abteil begleitete. Später fuhren sie durch die herrliche Landschaft des Taurus-Gebirges. Während sie, nebeneinander auf dem Gang stehend, zum Kilikischen Tor hinunterblickten, entrang sich der Dame plötzlich ein Seufzer. Poirot, der nicht weit von ihnen entfernt stand, hörte sie leise sagen:
    «Das ist so schön! Ich wünschte mir – ich wünschte –»
    «Was?»
    «Ich wünschte, ich könnte es genießen.»
    Arbuthnot antwortete nicht. Sein kantiges Kinn wirkte noch etwas strenger und grimmiger.
    «Und ich wünschte mir beim Himmel, wir wären aus der Sache raus.»
    «Still, bitte. Still.»
    «Ach was!» Er warf einen unwirschen Blick in Poirots Richtung. Dann fuhr er fort. «Aber mir gefällt der Gedanke überhaupt nicht, dass Sie die Gouvernante spielen müssen – immer nach der Pfeife tyrannischer Mütter und ihrer ungezogenen Bälger zu tanzen.»
    Sie lachte, und es lag nur der allerkleinste Anflug von Unsicherheit darin.
    «Oh, so dürfen Sie das nicht sehen. Die mit Füßen getretene Gouvernante gehört längst ins Reich der Legende. Ich kann Ihnen im Gegenteil versichern, dass die Ehern Angst haben, von mir tyrannisiert zu werden.»
    Mehr sagten sie nicht. Vielleicht schämte Arbuthnot sich ja ein wenig für seinen Ausbruch.
    «Was für eine drollige kleine Komödie bekomme ich hier zu sehen», dachte Poirot bei sich.
    Ein Gedanke, an den er sich später wieder erinnern sollte.
    Nachts gegen halb zwölf erreichten sie Konya. Die beiden Engländer stiegen aus, um sich auf dem verschneiten Bahnsteig ein wenig die
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