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Mord an der Mauer

Mord an der Mauer

Titel: Mord an der Mauer
Autoren: L Keil
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Peter Fechter. Zwar trifft ihn nur ein einziges der insgesamt 34 abgefeuerten Stahlgeschosse vom Kaliber 7,62 Millimeter, aber es durchschlägt seine rechte Beckenschaufel. Der Schusskanal verläuft schräg nach oben durch den ganzen Unterkörper; die Kugel zerreißt Dick- und Dünndarm sowie die Beckenschlagader, zertrümmert seine linke Beckenschaufel und tritt 11 Zentimeter über der Einschusswunde wieder aus. In Fechters Körper gerät die Kugel ins Trudeln, die Austrittswunde ist 11 Millimeter breit und 22 Millimeter lang. Die Energie des Einschusses reißt Fechter von den Beinen, er stürzt längs zur Mauer hin, keinen halben Meter vor ihr entfernt.
    Entlang der Zimmerstraße verläuft die innerstädtische Grenze genau durch das frühere Berliner Zeitungsviertel. Obwohl die Bombardements des Zweiten Weltkriegs hier schlimme Schäden angerichtet haben, werden doch mehrere Geschäftshäuser zu beiden Seiten des Grenzstreifens genutzt. Am Freitagmittag arbeiten hier Hunderte Angestellte, freuen sich auf ihren Feierabend und das bevorstehende Wochenende. Die meisten von ihnen sind Ohrenzeugen der Schüsse auf Fechter und Kulbeik, Dutzende versuchen sofort, einen Blick auf das Sperrgebiet zu erhaschen. Wissen doch alle Berliner, gleich ob in Ost oder West: Schüsse an der Mauer können nur bedeuten, dass gerade eine Flucht versucht worden und möglicherweise gescheitert ist.

    Ganz dicht am Geschehen befindet sich Renate Pietsch. Die 17-Jährige steht auf der Charlottenstraße im Osten, nur wenige Meter entfernt von der Straßensperre aus Betonelementen. Sie hat schon Feierabend und wartet auf ihren Freund Wolf-Dieter Zupke, der wie sie in der Druckerei des Union-Verlags arbeitet. Das Gebäude liegt unmittelbar an der Zimmerstraße, noch dazu nahe dem besonders scharf überwachten Ausländerübergang Checkpoint Charlie. Da der eigentliche Eingang zum Verlagsgebäude und zur Druckerei im Hof des Todesstreifens wegen unzugänglich ist, müssen alle Angestellten den Betrieb über ein abgeräumtes Trümmergrundstück in der Charlottenstraße betreten und verlassen. Seit etwa 14 Uhr steht Renate Pietsch hier schon, aber sie tut es gern, denn ihr Freund hat versprochen, die Einladungskarten für ihre Verlobungsfeier zu drucken. Beide kennen sich von klein auf, ihre Väter haben früher zusammen Radsport betrieben. Renate schaut auf den Zugang zum Hof, allein schon weil sie nicht einen der beiden Grenzer angucken möchte, der mit ihr zu flirten versucht. Da plötzlich knallt es nur wenige Meter hinter ihr. Die junge Frau, die bis zum Mauerbau eine Lehrstelle als Schneiderin in West-Berlin gehabt hat, nun aber als ungelernte Kraft in der Druckerei arbeiten muss, dreht sich sofort um. Am Rande ihres Blickfelds sieht sie eine männliche Gestalt auf der Mauer. Während einer der beiden Soldaten vor ihr weiter Feuerstöße abgibt, hat Renate Pietsch den Eindruck, dass diese Person von der Mauer zurück in den Todesstreifen fällt. Sie hört noch so etwas wie: »Nun mach doch!«, dann wirbelt die männliche Gestalt in dunklen Kleidern herum und bricht zusammen. Instinktiv will Renate in die Richtung des Fallenden gehen, immerhin hat sie kürzlich einen Lehrgang beim Roten Kreuz absolviert und fühlt sich verpflichtet, dem offensichtlich Verletzten zu helfen. Doch ein Uniformierter stößt sie zurück und brüllt: »Da können Sie nicht hin, da wird geschossen.« Renate Pietsch wird wütend und herrscht die beiden Uniformierten an, beschimpft sie als »Verbrecher« und »Mörder«. Einige neben ihr stehende Kollegen ziehen sie weg.
    In diesem Moment, seit den ersten Schüssen ist weniger als eine Minute vergangen, erreicht Wolf-Dieter Zupke seine zukünftige Verlobte. Der 19-Jährige hat vom Zugang zur Union-Druckerei aus verfolgt, was sich rund 60 Meter vor ihm im Sperrgebiet abgespielt hat. Auch er nimmt eine männliche Gestalt wahr, die unmittelbar vor der Mauer zusammenbricht, während geschossen wird. Renate Pietsch berichtet ihm empört, was sie gesehen hat. Da weist sie auf die beiden Uniformierten, die in einem niedrigen Graben Deckung genommen haben, und sagt: »Die müsste man fotografieren.«
    Ihr fällt auf, dass sich die beiden Grenzer des Postens auf der Charlottenstraße ganz und gar unterschiedlich verhalten. Der jüngere ist völlig aufgelöst, hat sein Gewehr aus der Hand gelegt und ist augenscheinlich unfähig, zu begreifen, dass während seines Dienstes ein Fluchtversuch geschehen ist und er geschossen
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