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Mord an der Mauer

Mord an der Mauer

Titel: Mord an der Mauer
Autoren: L Keil
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offiziell »Flächensperren« heißen. Wer daraufspringt, dem durchbohren die Nägel jede Sohle und auch die Füße. Ihre schweren Bauarbeiterschuhe aber hatten Fechter und Kulbeik ohnehin bereits ausgezogen, als sie sich unter den Holzspänen versteckten.

    Das Glück ist auf ihrer Seite – es liegt kein »Stalinrasen« vor dem Fenster, und auch sind auf den gut drei Metern zwischen Hauswand und erstem Stacheldrahtzaun keine Wachposten unterwegs. Allerdings sehen die beiden erst jetzt, dass es noch weitere Hindernisse gibt: Direkt hinter dem Zaun sind zwei Rollen Stacheldraht ausgezogen. Es reicht also nicht, das erste Hindernis zu überklettern; man muss oben vom Zaun aus über die Stacheldrahtrollen hinweg auf den Asphalt der Zimmerstraße springen. Dann sind es zwar nur noch acht Meter bis zur Mauer selbst, der letzten Sperre – doch zwischen den gemauerten Verstärkungen, die alle zehn bis 20 Meter die Mauer stützen und wie Vorsprünge zur Ostseite hineinragen, wurde zusätzlich Stacheldraht gespannt, in dem man sich verfangen kann; hier wäre man ein leichtes Ziel für die Kugeln der Grenzposten. Fechter und Kulbeik kann das nicht mehr schrecken, sie kennen nur eine Richtung: nach West-Berlin, in die Freiheit. Sie rennen los, mitten hinein ins Schussfeld der beiden Doppelposten, die rechts und links von ihnen stehen. Peter Fechter läuft als Erster, Helmut Kulbeik folgt ihm mit wenigen Schritten Abstand. Es ist wenige Sekunden nach 14:10 Uhr.
    Als Erster nimmt der Gefreite Erich Schreiber vom Posten 4 Markgrafenstraße die schnelle Bewegung rechts von sich wahr. Instinktiv ruft er seinem Postenführer Rolf Friedrich zu: »Da flitzt einer!« Der Unteroffizier gibt noch zurück: »Wo denn, ich sehe keinen«, dann zieht er den Abzug seiner Kalaschnikow schon durch. Die Waffe ist auf Dauerfeuer gestellt, Friedrich gibt aus der Hüfte mehrere Feuerstöße ab, 17 Kugeln insgesamt. Gezieltes Schießen ist selbst auf die relativ kurze Entfernung von 80 Metern so allerdings unmöglich, weil die Kalaschnikow bei Dauerfeuer ausbricht. Schreiber drückt ebenfalls ab, zwei Feuerstöße mit zusammen sieben Schuss. Einen Warnruf, wie es die offiziell gültigen »Schussgebrauchsbestimmungen« der DDR-Grenztruppen vorschreiben, geben weder Friedrich noch Schreiber ab.
    Nur einen Wimpernschlag nach Schreiber nimmt auch der Gefreite Siegfried Buske vom Posten 3 an der Charlottenstraße die Flüchtlinge wahr und drückt ab – möglicherweise zu einem Warnschuss in die Luft. Als sein Postenführer Hans Schönert diesen Schuss hört, wendet er sofort den Blick Richtung Sperrgebiet, reißt sein Gewehr hoch und schießt. Etwa 55 Meter liegen zwischen ihrem Standort, dem Sockel einer alten Litfaßsäule, und den beiden Flüchtlingen. Neun Schuss gibt Schönert im Dauerfeuer ab, dann muss er aufhören und in Deckung gehen, weil Kugeln aus den Waffen der Kompaniekameraden Friedrich und Schreiber als Querschläger in seiner Nähe einschlagen. Buske hatte sich schon nach den ersten Schüssen in einen kleinen Graben geworfen. Nach nicht einmal zehn Sekunden ist das Schießen vorüber.
    In genau diesen Sekunden rennt Kulbeik quer über die Zimmerstraße, windet seine 1,85 Meter geschickt durch den gitterförmig gespannten Stacheldraht vor der Mauer, zieht sich auf die Betonsperre hoch und unter den ypsilonförmigen Stacheldrahtträgern hindurch. Da registriert er aus dem Augenwinkel, dass sein Freund wie angewurzelt auf der Ost-Berliner Seite der Mauer steht. Kulbeik ruft ihm noch zu: »Nun los, nun los, nun mach doch!« Fechter hingegen bewegt sich nicht mehr vorwärts, sondern beginnt sich sogar umzudrehen. Er antwortet auch nicht, offenbar hat ihn geschockt, dass tatsächlich scharf geschossen wird. Helmut Kulbeik rutscht über die Mauerkrone. Hinter sich hört er noch weitere Schüsse. Zwei, drei Meter noch im Schatten, also im Schutz der Betonsperre, dann steht er auf West-Berliner Gebiet und ist in Sicherheit. Kulbeik läuft nach links, zum nächsten erkennbaren Eingang. Dieser führt in einen modernen Bau aus rotem Backstein und mit viel Glas, drei Stockwerke hoch – der Kopfbau der erst ein Jahr alten Druckerei des Axel Springer Verlags an der Kochstraße, zugleich Sitz der Berliner Bild -Redaktion. Sofort nehmen sich die Mitarbeiter dort des Flüchtlings an. Mit Ausnahme von Kratzern der Stacheldrahtdornen an Armen und Beinen ist er unverletzt, nicht einmal die Knöchel hat er sich verstaucht.
    Ganz anders ergeht es
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