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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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zusammen mit Fritz Morgenthaler ein psychoanalytisches Ausbildungsinstitut in Zürich, das in seinem liberalen Stil von den strengeren Regelungen der meisten Freud-Institute abweicht. Eines Tages stehen beide vor meinem Haus in Berlin. Sie interessieren sich für meine Untersuchungen über die Eltern-Kind-Beziehungen und erzählen spannend von ihren ethno-psychoanalytischen Studien in einem westafrikanischen Volksstamm. Aber noch eine andere kleine Geschichte haben sie mitgebracht, nämlich die von einem Affenkind, das hilflos neben seiner toten Mutter gehockt hat. Sie haben das Kleine bis in die Schweiz geschmuggelt und in Westfalen einen kleinen Zoo gefunden, der eine Affengruppe der gleichen Rasse beherbergt. Dort haben sie ihren Schützling untergebracht. Sie werden ihn im Folgejahr besuchen und schauen, wie es ihm geht. Scheinbar eine banale Story.Aber sie lässt zwischen uns gleich eine Vertrautheit entstehen, die lebenslang anhalten wird. Die beiden Schweizer erfreuen sich ihrerseits an einer jungen Nebelkrähe, die als Hausgenossin bei uns teils in der Wohnung, teils im Garten lebt. Sie war aus dem Nest gefallen und mir von einer Vierzehnjährigen gebracht worden, die ich nach einem Selbstmordversuch betreute.
    Mit Parin und seiner engagierten Frau Goldy, die im spanischen Bürgerkrieg die roten Brigaden gegen Franco unterstützt hat, treffen Bergrun und ich uns, wann immer sich dafür Gelegenheiten bieten. Mit Paul verbindet mich das Unbehagen darüber, dass der Mainstream der Psychoanalyse immer mehr den Elan einer unbotmäßigen kritischen Bewegung verliert und stattdessen, wie Paul es ausdrückt, »den Anschluss an eine mächtige, integrierte und konforme Schicht des Dienstleistungssektors gefunden hat.« Es sei zu untersuchen, »wie die Psychoanalytiker aus einer subversiven liberalen Intelligenzia zu einer angepassten konservativen Schicht geworden sind.« Er untersucht und kritisiert diese Entwicklung in zahlreichen Beiträgen, leidet zugleich deutlich an dieser zunehmenden Entpolitisierung und Anpassung der Zunft. Volle Befriedigung findet er indessen in der Ethnoanalyse und im Verfassen von originellen, anspruchsvollen Erzählungen, die von der Kritik hoch gelobt werden. Für mich bleibt er das Vorbild eines standhaften Repräsentanten einer kämpferischen politischen Psychoanalyse, dem ich, wie zahlreiche seiner Freunde, nachwirkende Ermutigung verdanke.

Aufklärung gegen Hörigkeit und Verdrängung:
Alexander Mitscherlich
    Alexander Mitscherlich, unter Hitler im Widerstandskampf, ist ebenfalls mit Parin freundschaftlich verbunden. Er ist noch nicht
     Psychoanalytiker, als er mit seiner Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses von 1946 den Kern der Verdrängung maßgeblicher Teile der deutschen
     Ärzteschaft trifft, und sich von diesen eine lebenslange Ächtung zuzieht. Erst 1958/59 lässt er sich in London psychoanalytisch ausbilden und gründet 1960
     das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Wir sind schon seit Jahren befreundet, als er 1967 zusammen mit seiner Frau Margarete das große Standardwerk über
     die Nazi-Verdrängung der Deutschen herausbringt. Es ist Die Unfähigkeit zu trauern . Die Mitscherlichs analysieren die Hörigkeit der Massen als
     Identifizierung mit dem scheinbar unwiderstehlichen Ich-Ideal Hitler und die spätere »Derealisierung« der Erinnerung. Was man auch immer an dieser Analyse
     kritisieren mag – sie erfüllt mit der gestifteten Aufregung ihren Zweck, nämlich einen kollektiven Verdrängungswiderstand aufzubrechen. Und das ist gut
     so. Ich selbst habe damals der Deutung der Mitscherlichs noch eine ergänzende hinzugefügt, nämlich die prompte Übertragung der Hörigkeitsbindung von
     Hitler auf die Westalliierten, an der Spitze die Amerikaner: Wir wären doch schon längst so wie diese, wenn die Nazis uns nicht daran gehindert
     hätten. Jetzt sind wir wieder so, wie wir eigentlich immer schon waren. – Der nahende Kalte Krieg unterstützt diesen Mechanismus.
    Jedenfalls verdanken wir der überaus eindrucksvollen Aufklärungsarbeit der beiden Mitscherlichs ein Wachhalten der Erinnerung und ich persönlich einen beruflichen Aufstieg. Nachdem die Medizinische Fakultät Frankfurt dem vermeintlichen Verräter Mitscherlich einen Lehrstuhl verweigert hat, vergibt der hessische Ministerpräsident Georg-August Zinn die Professur nach Gießen, wo man mich in der vergeblichen Hoffnung beruft, ich würde mich ähnlicher Kritik enthalten. Mitscherlich bleibt neben
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