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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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Generationen mitfühlend beizustehen. Jedenfalls bin ich bald so weit, meine Erfahrungen darüber, wie sich bestimmte Muster von Eltern-Kind-Beziehungen in kindlichen Störungen niederschlagen, systematisch zusammenzufassen. Anschaulich mache ich das mit markanten Beispielen aus jahrelang beobachteten Fällen. So entsteht das Buch Eltern, Kind und Neurose , das 1963 erscheint.
    Nur zwei prominente Psychoanalytiker loben das Buch. Der eine ist mein späterer schweizerischer Freund Paul Parin, der andere ist der New Yorker Gustav Bychowski, der in The Psychoanalytic Quaterly meint, ichhätte nun Freuds Lehre von der Kind-Eltern-Beziehung durch eine Analyse der Eltern-Kind-Beziehung komplettiert. Der Großteil der Kollegenschaft hält sich jedoch bedeckt, weil die Ausdehnung psychoanalytischer Forschung vom Individuum auf soziale Beziehungen zwischenzeitlich unüblich geworden ist. Aber dann passiert etwas Erstaunliches. Als die von mir im Buch beschriebene Kindergeneration Ende der sechziger Jahre in die Universitäten einrückt, macht sie mein Buch plötzlich zu einem Renner. Binnen Monaten werden 300 000 Exemplare verkauft, dazu tausende Raubdrucke auf der Straße. Die jungen Leute entdecken: So sieht es in uns aus. Deshalb haben uns die Eltern nicht so sein lassen, wie wir eigentlich sind und sein wollen. Dieser Elterngeneration müssen wir ein neues Denken, eine neue Freiheit, eine neue Menschlichkeit abringen.
    Die Jugendbewegung spaltet sich. Eine Gruppe rüstet sich zu revolutionärem Aktionismus. Keine Kompromisse mit einem verdorbenen System! Andere Teile ziehen sich in orthodox ideologische Zirkel zurück. Aber eine schnell wachsende Fraktion sammelt sich zu einer reformistischen Sozialbewegung. Ihr schwebt vor, sich gleichzeitig von gesellschaftlicher wie von innerer Repression zu befreien: Wir können die Gesellschaft nur humaner machen, wenn wir uns selbst verändern. Aus diesem Flügel kommen bald einige auf mich zu und wünschen, ich möge mich ihnen anschließen.
    1962, inzwischen etablierter Leiter einer psychosomatischen Universitätsklinik, bin ich zu einem Teil immer noch der gerade Entlassene aus dem »Toten Hause« Dostojewskis und in erster Linie besorgt, die inzwischen geborenen eigenen drei Kinder mit dem zu verschonen, was ich in mir trage. Aber habe ich der Jugend mit meinem Buch Eltern, Kind und Neurose nichtBeistand versprochen? Kann ich verweigern, was man mir zutraut? Und wollen die jungen Leute nicht etwas, was Bergrun und mir ohnehin vorschwebt? Also mache ich mit und bringe es irgendwie fertig, klinische Forschung, Lehre, Organisatorisches mit meinem Engagement in Einklang zu bringen und zugleich zwei Kinderläden zu begleiten, zehn Jahre in einer Obdachlosen-Initiative mitzuarbeiten und ein psychosoziales Versorgungsmodell auf dem Land mitzuentwickeln, das mehrere Beratungsdienste, Ergotherapie, betreutes Wohnen und Tagesklinik einschließt. Viele ähnliche Projekte gedeihen ringsum von unten aus der Bürgergesellschaft heraus. In der Ära Willy Brandt treten soziale Programme von oben hinzu, etwa das staatlich finanzierte Modell Humanisierung der Arbeitswelt .
    Staat und soziale Bewegung kommen in einer Psychiatrie-Reform zusammen. In einem gewandelten Geist der Menschlichkeit soll eine Art gesellschaftliche Wiedervereinigung mit den psychisch Kranken stattfinden, um deren Stigmatisierung und Ausgrenzung ein für allemal ein Ende zu machen. Es ist ein Test: Schafft es die Gesellschaft, das Brandt’sche Prinzip einer Politik der »Compassion« an – oder besser mit dieser großen Gruppe zu verwirklichen? Wird sich die Gesellschaft dadurch mit sich selbst aussöhnen, nachdem sie unter Hitler den eigenen heimlichen Selbsthass an den Schwächsten abreagiert und sich dadurch in grauenhafter Weise entwürdigt hatte?
    Mir obliegt es, ein Jahr lang zusammen mit 30 jüngeren Leuten aus Psychiatrie, Psychoanalyse und Sozialdiensten koordinierend eine Enquete vorzubereiten, die den Sektor psychosoziale Versorgung betrifft. Die Leidenschaftlichkeit, die in dieser Zusammenarbeit auflebt, charakterisiert noch einmal den idealistischenSchwung der Erneuerungsbewegung, und ich bekomme die Gelegenheit, die schon gewonnene persönliche Verbindung zu Willy Brandt zu vertiefen.
    Aber ich bin dabei, mit dem Bericht von meinem politischen Engagement meine innere Entwicklung gleichsam zu überholen, angefeuert von der Erinnerung an die stürmische Jugend. An dieser Stelle möchte ich an zwei
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