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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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Schlimmeren bekommt den Vorrang: Willy Brandt kämpft auf Großdemos gegen den Atomkrieg, Helmut Schmidt plant 1979 im sogenannten Nato-Doppelbeschluss vorsorglich die Installation von US -Atomraketen in der Bundesrepublik. Die SPD spaltet sich.

Macht und Staatsräson: Helmut Schmidt
    Im Juni 1980 sitze ich im Umkleideraum für meine wöchentliche Fußballrunde. Da fragt uns Mitspieler Horst Löb, Physikprofessor: »Ratet mal, wie viel atomare Sprengkraft, in Dynamit umgerechnet, ist jetzt schon für jeden Erdenbürger gehortet?« Wir rätseln: 100g? Ein paar Kilo? Nein: 15 Tonnen. Mir bleibt die Sprache weg.
    Am folgenden Tag habe ich an der Universität einen Vortrag über soziale Verantwortung zu halten. Mein dafür präpariertes Manuskript lasse ich zu Hause. Was ist jetzt wichtiger, frage ich, als uns gegen diese unmenschliche Zumutung zu wehren? 20 Zuhörer sammeln sich nach meiner Rede. Es ist der Auftakt zur Bildung einer regionalen Friedensinitiative. Von unserem Psychosomatischen Zentrum aus organisieren wir umgehend eine Ausstellung über Hiroshima. Dazu laden wir eine Woche lang Schulklassen ein. Diesen präsentieren wir auch einen Film über das Milgram-Experiment, das zeigt: Menschen sind bereit, andere zu foltern, wenn eine vermeintliche Autorität ihnen die Verantwortung dafür abnimmt. Wir brauchen aber eine Jugend, die zu widerstehen lernt. Eine Jugend, die nicht nur destruktive Atomwaffenpolitik ablehnt, sondern sich vor dem Grundübel der Vorgängergeneration bewahrt, nämlich der Hörigkeitsautomatik. Wir brauchen eine Jugend, die ihr Gewissen nicht korrumpieren lässt.
    Kanzler Schmidt hört von meinen stark besuchten Aufklärungsveranstaltungen und lädt mich zu einem mehr als zweistündigen Gespräch in seinen Kanzler-Bungalow in Bonn ein. Ich habe von diesem Treffenschon anderswo erzählt, erkenne aber erst jetzt, dass dieses Gespräch nicht nur den Wesensunterschied dieses bemerkenswerten Mannes zu Willy Brandt deutlich macht, sondern zugleich den Gegensatz zweier im Zeitgeist verankerter Grundpositionen, der uns zu einer Stellungnahme herausfordert.
    Schmidt, 1981 noch Kanzler, hat auf dem Tisch vor sich den Text einer Rede, die ich soeben auf einer Tagung von Friedensgruppen in Hamburg gehalten habe. Mit kritischen Randbemerkungen hat er eine Passage versehen, in der es heißt: »Wenn längerfristig nur eine echte Abrüstungspolitik den Frieden zu sichern vermag, so kann eine solche Politik nur von Menschen und Gremien getragen werden, die auch in psychologischem Sinne abzurüsten vermögen. Das bedeutet den Mut zu einer Haltung der Versöhnlichkeit, der Vertrauensbereitschaft und der Offenheit. Die Politik kann nur in dem Maße menschlicher werden, als in ihr Persönlichkeiten von jener Menschlichkeit wirksam werden, die sich etwa mit dem deckt, was wir unter psychosozialer Gesundheit verstehen.«
    Darauf anspielend wehrt sich Schmidt gegen das Vorurteil in den Medien, wo er als der kalte Macher gelte im Kontrast zu dem »großen Menschenfreund Brandt«. Wir sprechen über seine Zurückhaltung, wenn es darum geht, Gefühle zu zeigen, zum Beispiel, ob ihm der dramatische atomare Rüstungswettlauf nicht auch Angst mache? Jedenfalls distanziert er sich nachdrücklich von der Friedensbewegung, die er für infantil und schädlich hält. In dieser heftigen Entwertung spüre ich, dass er gerade solche Gefühle abwehrt, von denen er wünscht, dass man sie ihm nicht absprechen möge.
    Dann erhalte ich von ihm eine kleine Lehrstunde darüber, warum seine große Übersicht ihm eine besondereFührungsverantwortung abverlange. Er war Verteidigungs-, Wirtschafts-, und Finanzminister. In allen Bereichen sieht er sich in einer herausragenden Pflicht, der er im Sinne der Kant’schen Pflichtethik nachzukommen versuche. Das gibt mir Gelegenheit, Kants spätere Anerkennung des Enthusiasmus zu erwähnen, den die Ideen der Französischen Revolution bei den Nachbarvölkern geweckt hätten. Denn wahrer Enthusiasmus – so Kant – gehe immer »aufs Moralische«. Doch Schmidt bleibt beim nüchternen kategorischen Imperativ. Irgendwie landet er dann bei den politischen Führern der USA und der UdSSR , denen er knapp anerkennende oder abschätzige Zensuren verpasst. Und dann sind wir bei Luther, der Recht gehabt habe, die Kirche zu reformieren. Aber er hätte sie – so Schmidt – nicht spalten dürfen. Mit Papst Johannes Paul II . habe er schon zweimal gesprochen. Der habe sehr genau zugehört, als er ihm
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