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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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nur als geistig ebenbürtig, sondern bedauern, dass ihre Karrierebehinderungen den Männern ebenjene Rücksichtslosigkeiten erleichtern, die uns in die derzeitigen Krisen hineintreiben.
    Es erscheint typisch für Willy Brandt, dass ihm die Gleichstellung der Frau auch in der Politik besonders am Herzen liegt. Er erkennt wie Schopenhauer, dass die Fähigkeit zum Mitfühlen Grundlage für eine Politik der Humanität ist. Schopenhauer allerdings hatte das Mitleid zwar als Wurzel des Gerechtigkeitsbewusstseins erkannt, es aber einseitig den Frauen zugeschrieben: Er sprach vom »Mitleid, für welches die Weiber entschieden leichter empfänglich sind«. Doch »der Gedanke, Weiber das Richteramt verwalten zu sehen, erregt Lachen; aber die barmherzigen Schwestern übertreffen sogar die barmherzigen Brüder«. Das schrieb Schopenhauer noch 1840 in seiner Preisschrift über das Fundament der Moral. Heute wäre es Schopenhauer selbst, der mit solcher Meinung Lachen oder Unwillen erregen würde. Und keiner würde Willy Brandt für seine Politik der »Compassion« unmännlich nennen, obwohl er damit dem klassischen Männlichkeitsstereotyp widerspricht.
    Tatsache ist aber, dass es Frauen immer noch schwerer gemacht wird, in Führungsstellen aufzusteigen, was jedochzur fortschreitenden Humanisierung unserer Kultur nottäte. Ich habe mich neuerdings in die Debatte über die Bankenkrise mit der Behauptung eingemischt, dass wir kaum ähnlich tief in das Zocker-Unwesen verstrickt worden wären, hätten Frauen in dieser Branche gleichgewichtige Machtpositionen inne. Jedenfalls nimmt Brandt das 100. Jubiläum des Buches Die Frau und der Sozialismus von August Bebel zum Anlass, 1978 einen Band mit dem Titel Frauen heute herauszugeben. Elf bekannte Schriftstellerinnen, Journalistinnen und Politikerinnen gewinnt er als Autorinnen. Als einzigen Mann lädt er mich zum Mitschreiben ein, was ich gern tue. Er selbst verfasst eine bemerkenswerte Einleitung:
    »Wir leben in einer Zeit gewaltiger Veränderungen, und sie beschränken sich nicht auf den wissenschaftlichtechnischen Bereich. Der Rüstungswettlauf fordert zur sorgenvollen Frage heraus, ob die Menschheit überleben will. Man beginnt zu erkennen, wie weitreichend und tiefgreifend die Fragen sind, die durch den Nord-Süd-Konflikt aufgeworfen werden. Man forscht nach den qualitativen Erfordernissen und Möglichkeiten des Wachstums. Das Verlangen nach einem neuen Humanismus, unterschiedlich motiviert, regt sich allenthalben.
    Wer wagt zu sagen, daß es, gerade aus solcher Sicht, nicht einer gleichgewichtigen Mitverantwortung beider Geschlechter bedürfte! Gleichberechtigung wird zu einem unabweisbaren Gebot, wenn wir an die menschheitlichen Aufgaben denken, die den nächsten Generationen aufgegeben sind.«
    Es lässt sich herauslesen: Brandt geht es nicht nur um die Ebenbürtigkeit der Frauen, sondern um ihre Unentbehrlichkeit, um gemeinsam zu einem »neuen Humanismus« aufzusteigen.
    Männer benötigen den Mut, von den Frauen mehr soziale Sensibilität zu lernen, die Frauen wiederum mehr Mut, sich verantwortungsvolle Führungsaufgaben zuzutrauen. Und die Hoffnung wäre, dass daraus ein neues Geschlechterverhältnis erwüchse, eine gemeinsame Selbstverwirklichung zu einem Stadium hin, das ich Elterlichkeit zu nennen vorgeschlagen habe, nämlich das Erlernen einer Verantwortlichkeit, die, über die Kindererziehung hinausreichend, die Sorge für eine friedlichere und humanere Gestaltung der Lebensverhältnisse im Ganzen einschließt.
    Ich stelle in meinem Text einige Befunde der eigenen psychoanalytischen Forschung vor, die wir in unserem Zentrum in empirischen Studien zusammen mit Dieter Beckmann und Elmar Brähler ermittelt haben. In unserem international bekannt gewordenen Gießen-Test stellen sich die Frauen, wie erwartet, als gefühlsoffener dar, ferner selbstkritischer, fürsorglicher aber vergleichsweise anfälliger für Angst und Bedrücktheit.
    Aber was besagen diese Unterschiede? Man kann nicht unmittelbar herauslesen, ob Frauen und Männer in diesem Maße so unterschiedlich sind oder sich nur so unterschiedlich darstellen . Frauen fällt es leichter, Schwächen zuzugeben, während das Männlichkeitsstereotyp Männer eher dazu verführt, Robustheit hervorzukehren. Immerhin haben die Männer, wie bekannt, eine gesichert geringere Lebenserwartung. Die an das traditionelle Männlichkeitsideal am besten angepassten hektischen männlichen Aktivisten tragen ein überdurchschnittliches
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