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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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Paul Parin und Marie Langer die herausragende Figur, die nach dem Krieg die Tradition der politischen Psychoanalyse aus den zwanziger Jahren erfolgreich fortsetzt. Mitscherlich ist der kritische Aufklärer der gebildeten Elterngeneration, die er als Widerständler unerbittlich am Verdrängen der Nazischuld hindert. Ich hingegen als der 15 Jahre Jüngere gerate aus der Eltern-Kind-Forschung in die beschriebene Rolle eines Begleiters, Unterstützers und Chronisten der reformistischen Nachkriegsjugend. Deren kreative Erinnerungsverarbeitung als Psychoanalytiker zu unterstützen ist meine Aufgabe geworden.

Politik der »Compassion«: Willy Brandt
    Kein Politiker ist der Aufbruchstimmung der reformistischen Jugend so nahe gekommen wie Willy Brandt und diese keinem Politiker so nahe wie ihm. Sein Kniefall vor dem Warschauer Gettodenkmal ist keine kalkulierte Geste. Er nimmt auf sich, wofür er persönlich als vertriebener Flüchtling keine Schuld trägt. Aber mit seinem Eingeständnis und seiner Bitte um Vergebung gibt er ein Zeichen für alle, insbesondere für die Jugend, der er damit hilft, sich wieder aufzurichten. Noch aus dem kleinen besetzten Westdeutschland wirkt er versöhnend in die ganze Welt hinaus. »Dieser Willy Brandt sorgt dafür, dass wir vor euch Deutschen keine Angst mehr haben müssen«, bekomme ich auf einer Studienreise durch Russland verschiedentlich zu hören. Aber ich bin besorgt: Wie kann einer mit solchen humanistischen Visionen in einer von irrationalen Machtegoismen beherrschten Szene bestehen? Die Antwort kommt 1974: Brandt stürzt als Kanzler.
    Darüber schreibe ich einen psychoanalytischen Essay im Spiegel . Brandt darf nicht resignieren. Die ihn im Stich gelassen haben, sollen ihr eigenes Versagen begreifen. Und das Publikum soll seine Hoffnung nicht mit Brandts Sturz begraben. Im Einzelnen erläutere ich: Schon der Aufstieg eines so sensiblen und so wenig zu Argwohn begabten Mannes zur Kanzlerschaft ist beinahe ein Wunder. Aber oben angekommen, braucht so einer robuste Mitkämpfer, die ihm Flankenschutz geben und seine »blinden Flecken« abdecken. Das geht eine Weile gut, solange der Läuterer gebraucht wird, um dem Wiederaufstieg aus der Nacht der Schande voranzuleuchten. Doch nach dem großen Wahlerfolg1972 ist es mit der Solidarität im Spitzenteam vorbei. Ungenierte Egoismen von Kabinettskollegen und eine provozierende außenpolitische Extratour Herbert Wehners lassen den Kanzler schließlich allein dastehen, als der Arglose in der Guillaume-Spionageaffäre eine geschlossene Unterstützer-Front um sich gebraucht hätte.
    Zu meiner Freude lädt Brandt mich nach Bonn ein. Meiner Analyse stimmt er voll zu und ergänzt sie noch durch aufschlussreiche Details. Bei einem meiner folgenden Besuche hält er ein großes altes Wahlplakat in den Händen. Es hatte für den roten Senat in Wien geworben. Ein Unterzeichner hieß Sigmund Freud. Brandt ist ein Freund der Psychoanalyse. Als Asylant in Oslo hatte er in Seminaren des ebenfalls vor den Nazis geflüchteten Psychoanalytikers Wilhelm Reich gesessen. Als ich einmal erwäge, in die SPD einzutreten, rät mir Brandt ab: »Wenn Sie uns mit kritischem Wohlwollen begleiten, sind Sie uns nützlicher, als wenn Sie aus Loyalität verschweigen müssen, was Ihnen nicht passt.« Er hat meine Rolle genau verstanden und mich darin bestätigt. Mein Platz ist an der Seite der Bürgerbewegung. Denn die Widerstandskraft für eine Humanisierung der Politik braucht den Elan aus dem Volk, vorläufig noch aus der Nachfolgegeneration der Nazi-Eltern. Die Regenerationskraft aus dem Aufbruch der 68er darf nicht verloren gehen.
    1980 erweist sich der gute Kontakt mit Brandt noch einmal als hilfreich. An einem Sonntagvormittag erfahre ich, dass die mehreren hundert Millionen für
     die Durchführung der Psychiatrie-Reform gerade wieder zu Einsparungszwecken aus dem Haushaltsplan gestrichen worden sind. Anruf bei Willy Brandt: Diese
     Reform sei ein zentraler Baustein seiner Humanisierungspolitik.Ob sich da nicht doch etwas machen ließe? Vielleicht haben wir Glück, lautet die prompte Antwort. Am Nachmittag komme Finanzminister Matthöfer zu ihm. Matthöfer kommt, und die Gelder werden gerettet.
    Mit Willy Brandt 1976
    Als Chef der SPD bleibt Brandt die Seele der Partei. Aber deren Widerstandskraft schwindet und auch der Elan der humanistischen Reformbewegung. Der atomare Bedrohungswettlauf schwächt das Pro, den Glauben an das Bessere. Das Anti, die Verhütung des
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