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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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das passive, ohnmächtigeHinterherhecheln. Die Klimabedrohung kommt umgekehrt aus einer Herrschaftsideologie. Die Natur gehöre dem Menschen statt er zu ihr, lautet die Einbildung. Dieser Übermut hat rechtzeitige Selbstbeschränkungen in der Umweltbelastung verhindert. Wenn man bei dem Bild bleiben will, ist es die Natur, die hinterher hechelt, weil ihr der Mensch die Kraft raubt, das Leben von Millionen Arten zu erhalten und paradoxerweise auch die Zukunft des menschlichen Geschlechts zu sichern. Keine objektive Wirtschaftslogik treibt die Menschen dazu, Atombomben zu produzieren, um sich und alle übrigen Kreaturen mit Auslöschung zu bedrohen. Sie selbst sind die Antreibenden.
    In seiner berühmten Korrespondenz mit Albert Einstein über den Krieg erwartete Freud 1932, im Kulturprozess werde der Intellekt erstarken und das Triebleben, somit auch die Aggression, zu beherrschen beginnen. Einstein hingegen bezweifelte diese Voraussage und hatte bereits zuvor in einem Schreiben an Romain Rolland festgestellt, »daß Athletik des Geistes nicht schützt gegen Kleinheit der Seele und barbarisches Empfinden. Ich glaube, daß edle menschliche Gesinnung in den Universitäten und Akademien nicht besser gedeiht als in den Arbeitsstätten des ungekannten stummen Mannes aus dem Volke.« Und an Freud schrieb er 1932: »Nach meiner Lebenserfahrung ist es vielmehr gerade die sogenannte Intelligenz, welche den verhängnisvollen Massensuggestionen am leichtesten unterliegt.«
    Er sollte Recht behalten. Die deutsche Intelligenz kapitulierte vor Hitler und vor einer Brutalisierung der Gesinnung, die zu einem blutigen Angriffskrieg, zu einer Beinahe-Ausrottung der Juden und zum Mord an 100 000 psychisch Kranken und Behinderten führte. Das Ausmaß der moralischen Selbsterniedrigung wardem Tätervolk so unfassbar, dass es sich später darin nicht wiedererkennen wollte, so als wäre es nur einem Spuk erlegen und erwache danach in alter Normalität. Es war der Unwille, die Schuld auf sich zu nehmen, an ihr zu leiden und dabei anzuerkennen: Wir haben mitgemacht, was man mit uns gemacht hat.
    Die von der Hitlerzeit geprägten Eltern reagierten an ihren Kindern ihre Selbstunzufriedenheit und ihre heimlichen Selbstvorwürfe ab. Aber die Kinder errieten, was ihnen verschwiegen wurde. Und für mich als jungen psychoanalytischen Kinder- und Familientherapeuten wurde dies mein Lebensthema: War es der neuen Generation möglich, den ihr hinterlassenen Kulturbruch innerlich zu überwinden, oder würde das barbarische Empfinden, wie es Einstein genannt hatte, in anderer Form wieder auftauchen?
    Ist einem vergönnt, ein hohes Alter zu erreichen, erkennt man, wie wir die Welt verändern und wie die geschaffene Welt uns verändert. Heute droht kein Hitler mehr. Aber was sich wieder einschleicht, ist neuer moralischer Verfall: eine egoistische Brutalisierung, von der atomaren Bedrohung angefangen bis zur Naturzerstörung und zu dem noch immer ungebremsten Zocker-Unwesen in der Finanzbranche. Da geht es nicht mehr um brachiale, sondern um eine subtile, versteckte Gewalt. Die Verrohung geschieht ohne offenen Hass. Die Barbarei liegt in einer moralischen Fühllosigkeit, einem Schwinden von Sensibilität.
    Das genauer zu erkunden, verständlicher zu machen und nach Möglichkeit Widerstandskräfte zu ermutigen, ist die Absicht der folgenden Schrift, die
     persönliche Erfahrungen und analytische Reflexionen verknüpft.
    Wenn ich einiges schon anderswo Gesagte wiederhole, so um zu zeigen, wie manches Unverarbeitete wieder auftaucht und wie ein vermeintlicher Fortschritt uns nur weiter von dem Punkt entfernt, von dem aus eine Neubesinnung möglich ist.
    Es ist ein historischer Moment, da die westliche Gemeinschaft keinen Weltfeind zum Besiegen mehr vor Augen hat, keinen Saddam Hussein, dem man die Verantwortung für den 11. September und die Bedrohung mit Massenvernichtungswaffen andichten konnte. Doch unsere Gesellschaft verdrängt die Herausforderungen der Zukunft. Es bedarf eines gemeinsamen geistigen Wandels, der von innen kommt. Eine Utopie? Eine solche wäre es zu glauben, es könnte so weitergehen wie bisher. Dass die Kräfte für eine innere Erneuerung bereitliegen, wenn auch bisher immer wieder erlahmend, zeigt die Geschichte. In meiner Generation der nunmehr Mitte Achtzigjährigen haben wir den Aufbruch aus einem Stadium von scheinbar heilloser Verkommenheit zu einer gemeinsamen Selbsterneuerung schon einmal erlebt. Und deshalb möchte ich meine
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