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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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Psychoanalytiker erinnern, die mir geholfen haben, den Zusammenhang zwischen Innenwelt und Politik besser zu verstehen und daraus Folgerungen für eigenes Handeln zu ziehen.

Anpassung ist keine Option: Paul Parin
    Über meine berufliche Biographie scheint bis zu diesem Punkt das Wichtige gesagt: Studium in Philosophie und Medizin. Ausbildung zum Psychiater und Psychoanalytiker. Kinder- und Familientherapie. Aufbau eines Psychoanalytischen Instituts und eines Psychosomatischen Zentrums in einer Universitätsstadt. Doch in jeder der Stellungen und Institutionen lebe ich mit Menschen zusammen, die wie ich selbst indirekt beeinflusst sind durch eine Ära des Ungeistes, der Gewalt und der Selbstentfremdung. In den Kindern steckt viel von dem psychisch Unverarbeiteten der Eltern. In Euthanasie und Holocaust will sich niemand wiedererkennen. Die Psychoanalyse will dort weitermachen, wo sie vor Hitler war, aber ohne die Gesellschaftskritik der zwanziger Jahre und ohne die einst von Anna Freud begründete psychoanalytische Pädagogik, weil Erziehungseinfluss neuerdings als irrelevant für die Neurosenbildung gilt. Bis Ende der sechziger Jahre findet keiner der Kongresse der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung Platz für ein Vortragsthema der politischen Psychoanalyse.
    Dass ich in meiner Berliner Beratungs- und Forschungsstelle in einem fort mit generationenübergreifenden Konflikten konfrontiert werde, die unter anderem vom Schicksal der Eltern aus Hitlerzeit und Krieg verursacht sind, kann mich nach den eigenen traumatisierenden Erfahrungen nicht überraschen. Überrascht bin ich allerdings, als die kritische Jugend die totgesagte psychoanalytische Pädagogik in Eltern, Kind und Neurose neu entdeckt und daraus für ihr politisches Engagement Nutzen zieht.
    Andauernd erlebe ich, wie in den Störungen der Kinder weiterwirkt, was Hitlerzeit und Krieg in den Eltern an psychischen Deformierungen angerichtet haben. Ich habe nach den Schreckensjahren ja selber Mühe, ich selbst zu sein, was ich jahrelang nicht sein durfte. Erstaunt bin ich dennoch darüber, wie die Heranwachsenden in den Krankengeschichten meines Buches eine Art Schlüssel entdecken, der ihnen verständlicher macht, was in ihrer Generation zwischen ihnen und den Eltern passiert ist und wie anders sie jetzt werden wollen. Diesen Aufbruch erleben Bergrun und ich auch bei den eigenen Kindern Ende der sechziger Jahre.
    Jedenfalls fühle ich mich als Psychoanalytiker zu neuem Denken herausgefordert, um die Erschütterungen der Familienstrukturen und zugleich die verschiedenen Gruppenbildungen der Jugendlichen zu verstehen, in denen diese gemeinsam neue Beziehungsformen nach politischen oder auch psychoanalytischen Prinzipien ausprobieren. Es ist im Nachhinein schwer, deutlich zu machen, was damals in der Jugend vor sich ging.
    Jahrelang hatte es so ausgesehen: Wir sind das, was der Staat und die Biologie mit uns machen. Jetzt wird klar: Was der Staat mit uns gemacht hat, war falsch. Wir sind ganz anders. Wir müssen uns neu erfinden als Frauen und Männer, als politische Bürgerinnen und Bürger und ein neues Gemeinschaftsleben einüben. Damit müssen wir als Jugend anfangen. Wir haben keine Seele in einem geschlossenen Gehäuse, sondern leben von Geburt an auf andere bezogen. Am Anfang ist die Beziehung und nicht das Ich. Beziehung aber auch zu den Vorgängern, von denen wir vieles verinnerlicht haben. Damit erweitert sich der Blickwinkel bis zur Politik. Politik, das ist nicht nur das, was mit uns gemacht wird und was wir in der Demokratie mitmachen.Politik hat auch eine Innenseite . Diese Innenseite ist maßgeblich für die Richtung der Politik. So wie Politiker als Menschen sind, so sieht auch ihre Politik aus. Umgekehrt verrät die Gemeinschaft eines Volkes viel von der eigenen Psychologie, je nachdem, welchen Politikern sie sich anvertraut. Die Untersuchung dieser Wechselbeziehung wird im Folgenden immer wieder als Thema auftauchen, weil sie zu einem nicht geringen Teil meinen Lebensweg bestimmt.
    Ein Psychoanalytiker, der mir dabei geholfen hat, Freuds Wissenschaft vom Unbewussten außer in der Medizin auch auf Politik und auf mein eigenes Engagement in dieser anzuwenden, ist Paul Parin. Er kommt aus Zürich und ist sieben Jahre älter als ich. Während des Zweiten Weltkriegs hat er zeitweilig als Chirurg in einem Lazarett der Jugoslawischen Befreiungsarmee in einem kroatischen Partisanengebiet gearbeitet. Danach wird er Psychoanalytiker und leitet
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