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Moorehawke 01 - Schattenpfade

Moorehawke 01 - Schattenpfade

Titel: Moorehawke 01 - Schattenpfade
Autoren: Kiernan Celine
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sehen. Es war eine ihrer lebhaftesten Erinnerungen: Razi, der sich zu ihr und Alberon umdrehte und ihnen zur Aufmunterung zärtlich zulächelte.

    »Ich bringe euch einen Hasen mit!«, rief er dann, und das tat er auch jedes Mal, oder einen Fasan oder ein Gelege Wachteleier. Immer ein kleines Geschenk, um die beiden Jüngeren darüber hinwegzutrösten, dass er sie allein gelassen hatte; dass er ohne Alberon gegangen war, der Razi wie ein Schatten folgte und ihn schmerzlich vermisste.
    Wenn ihr erst elf seid, so versprach man ihnen, wenn ihr erst elf seid, dürft ihr mit auf die Jagd . Doch als sie endlich elf geworden waren, hatte sich schon alles verändert. Razi hatte man mit seiner Mutter nach Nordafrika geschickt, und Alberon war ein Gefangener des Throns gewesen, beständig an der Seite des Königs. Lorcan und Wynter hatte man in den Norden entsandt, in Kälte und Nässe, die die Gesundheit ihres Vaters zerstört hatten.
    Ein hohes melodisches Klagen unterbrach Wynters Gedanken. Sie schrak zusammen, doch dann musste sie lachen, als sie das Geräusch erkannte. Seit Jahren hatte sie es nicht mehr gehört. Die muselmanischen Knaben knieten im Schatten der Bäume und richteten ihre gesungenen Gebete an ihren Gott. Auf die Zehenspitzen hochgereckt, suchte Wynter zwischen den sich hebenden und senkenden Köpfen nach Razi, doch er war nicht unter ihnen. Vielleicht war er noch gar nicht nach Hause zurückgekehrt? Dieser Gedanke versetzte ihr einen so scharfen Stich, dass sie ihn sogleich fortschob. Razi hatte nie viel fürs Beten übriggehabt, ermahnte sie sich. Er war bestimmt hier, nur irgendwo anders auf dem Palastgelände.
    Der Geruch nach gebratenem Hammel drang ihr in die Nase, und als Antwort darauf krampfte sich ihr Magen zusammen. Großer Gott, war sie hungrig! Plötzlich überwältigt vom Verlangen, in die Küche zu eilen, ließ sie ihre Erinnerungen vorerst ruhen.

    Oben an der Küchentreppe stand wie eh und je die Statue der Kalten Frau, den wehmütigen Blick auf den Waldpfad gerichtet. Trotz der Hitze war ihr steinernes Antlitz mit Reif bedeckt, kleine Eiszapfen tropften von ihren anmutig gemei ßelten Fingern herab. Wie immer schenkte Wynter ihr im Vorbeigehen einen staunenden Blick. Die Mägde und Melker hatten ihre Milch- und Saftkrüge, Töpfe mit Butter und Schüsseln voller Sahne auf dem Sockel unter dem Saum des Kleids der Kalten Frau abgestellt. Es erinnerte Wynter an die Opfergaben, die die Mittelländer ihrer Jungfrau darboten.
    Im Weitergehen schnappte sie den scharfen Geruch von Cheddar-Käse auf, und vor Hunger lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie ließ die klangvoll zur Sonne emporsteigenden Gebete der Muselmanen hinter sich und rannte beinahe die finstere Treppe hinunter ins trübe Licht der duftenden Küche.
    Wynters Augen brauchten einen Moment, um sich an die Düsternis zu gewöhnen. Ein Küchenjunge schob sich mit einem Korb Zwiebeln an ihr vorbei, doch niemand schenkte ihr Beachtung, so dass sie von ihrem leicht erhöhten Standpunkt am unteren Treppenabsatz das wohlgeordnete Durcheinander überblicken konnte.
    O ja, das war es, was sie vermisst hatte. Das war das wahre Herz ihrer Heimat, die Seele des Königreichs, nach der sie sich gesehnt hatte.
    All die unterschiedlichen Völker und Religionen, aus denen sich König Jonathons Reich zusammensetzte, schienen in der Schlossküche versammelt. Braune und weiße und elfenbeinfarbene und gelbe Gestalten, die schwitzten und brüllten und hin und her rannten. Ein hohes, stetes Gewirr aus verschiedensten Sprachen und Mundarten, Gesten und Gebärden, die sich zu einer zweckmäßigen, wenn auch konfusen
Einheit verbanden. Und ihren dampfenden Mittelpunkt bildete Marni – gewaltig, bärengleich, mit fleischigen Armen, riesigen roten Händen und eigenartig knolligem Gesicht. Sie überragte alle anderen und war das Zentrum des Wirbelsturms, die niemals ruhende Göttin der Küche.
    Wynter reckte den Kopf, um über die auf dem Tisch aufgetürmten Zutaten nach dem kleinen Spießdreher Ausschau zu halten. Als sie ihn entdeckte, verspürte sie ein warmes, beruhigendes Gefühl in der Brust und lächelte.
    Der Spießdreher war der Niederste der Niederen in jeder Schlossküche, der kleine Kerl, dessen Aufgabe darin bestand, Hühner und anderes Geflügel stetig über dem Feuer zu wenden, während ältere Männer die schweren Fleischspieße drehten. Sie hatte schon erlebt, dass sechs- oder siebenjährige Jungen – nackt wegen der Hitze und verschmiert
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